#Roman

Mondkälber

Cordula Simon

// Rezension von Kirstin Breitenfellner

„Ach, Vernunft, heute angebetet, morgen guillotiniert!“

Zwei Jahre nach ihrem Science-fiction-Roman Die Wölfe von Pripyat (2022) legt Cordula Simon ein weiteres Buch vor, das die Debatten und Probleme der Jetztzeit in eine unbestimmte Zukunft extrapoliert: den Roman Mondkälber. Damit ist sie in der heimischen Literaturlandschaft nicht allein, hatten doch zuletzt etwa Tanja Raich mit Schwerer als Licht (2022) oder Andrea Grill mit Perfekte Menschen (2023) Dystopien vorgelegt.

Kein Wunder, möchte man sagen, lässt sich doch der öffentliche Diskurs derzeit mit dem Adjektiv „unerbittlich“ am besten beschreiben. Diesem lässt es sich mit einem Ausweichen in die Zukunft ebenso gut entkommen wie beikommen. Dystopien schulen die Fertigkeit, auch zwischen den Zeilen zu lesen. Das gibt der Lektüre einen kriminalistischen Touch, der die Spannung – jedenfalls im Falle von Cordula Simons neuem Buch Mondkälber – erhöht.

In Die Wölfe von Pripyat zeigte Simon eine Gesellschaft, die Menschen durch eine überschießende Political Correctness entmündigt und unter die Herrschaft einer Software namens „Log“ stellt, die sogar in den Hormonhaushalt eingreifen kann – ein beklemmendes Szenario, gerade weil einem viele Elemente davon bekannt vorkamen. Mondkälber wirkt dagegen wie ein anarchistisch angehauchtes Nachspiel, obwohl seine Themen nicht weniger ernst sind. Es geht um Wissenschaft und den Kampf um die Wahrheit sowie um eine Seuche und einen Krieg – hinter denen unschwer die COVID-19-Pandemie sowie der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine zu erkennen sind. Letzterer beherrscht den zweiten Teil des Textes, der in einer Stadt angesiedelt ist, hinter der man Odessa vermuten könnte, in der Cordula Simon längere Zeit lebte.

Aber von vorne: In 38 Kapiteln berichtet eine namenlose Icherzählerin von ihrer Freundschaft mit einem rätselhaften Paar, der Künstlerin Irina und dem Revolutionär Jewgenij, die die Icherzählerin magisch anziehen und sie zwar dulden, aber nicht zu brauchen scheinen. Unterbrochen wird sie alle paar Seiten, manchmal aber auch mehrmals pro Seite von einem Dr. Weintraub, der die von ihm nur „das Subjekt“ genannte Icherzählerin als „Herausgeber“ in Parenthesen kommentiert – und damit meistens korrigiert oder zumindest desavouiert. „Wagen Sie nicht, mit diesem Buch an einem Schreibtisch zu sitzen. Dies ist keine wissenschaftliche Abhandlung“, warnt Dr. Weintraub die Leser:innen in einer Vorbemerkung mit dem Titel „Wie Sie dieses Buch benutzen“ (S. 7). 

Die Perfidie von Cordula Simons Erzählkunst besteht darin, dass es sich bei beiden um unzuverlässige Erzähler handeln, die um die Wahrheit streiten. Während Dr. Weintraub sich als Scharlatan erweist, der für seine Patientin, die Icherzählerin, Mondkalender erstellt, tragen ihre Berichte wahnhafte Aspekte – etwa wenn sie glaubt, bunte Glasscherben zu erbrechen, ihre Zunge um sich selbst herumtanzen oder Schokoladenerdbeeren in kleine Geckos verwandelt zu sehen oder wenn sie gar meint, bereits gestorben zu sein. 

Diese „Wahrheitsfehde“ dreht sich unter anderem um den zweiten, leuchtend blauen Mond, der seit einiger Zeit als Begleiter des „bekannten blassgelben“ über der Stadt aufgetaucht ist. Der Arzt und Totenbeschauer Weintraub hält diesen für real oder spricht ihm zumindest dieselbe Anziehungskraft zu wie dem echten Mond. Die Icherzählerin glaubt, dass es sich um eine bloße Spiegelung handelt, wenn nicht gar um eine Illusion. In der Zeit, in der der Roman handelt, entstehen überhaupt viele Verschwörungstheorien und Kulte, die titelgebenden Mondkälber etwa sind laut Icherzählerin ein „drolliger Kult“, der sinnlose Fragen stellt wie etwa: „Wo im Westen beginnt der Osten?“ (S. 85) 

Wer möchte, kann hinter all den zwischen Dr. Weintraub und dem „Subjekt“/der Icherzählerin  ausgetauschten kruden Theorien, Unterstellungen und Verdrehungen der Ansichten des jeweils anderen die verunglückten Debatten darüber, was wahr ist bzw. Wissenschaft soll, darf und kann während der COVID-19-Pandemie vorgeführt oder noch eher verballhornt finden. Das klingt dann so: „Warum konnte man nicht einfach ein Raumfahrtkommando schicken, um diesen zweiten Mond zu überprüfen? Sollten sie doch Steine mitbringen von dort, wenn der Mond keine alberne Spiegelung war, wofür ich ihn selbstverständlich hielt. Aber vermutlich waren auch all die Mondexpeditionen zu unserem guten alten Mond nur Illusion gewesen. [Keine Illusion, jedoch teuer, aufwendig und den Lohn nicht wert. Anmerkung: Dr. Weintraub]“  (S. 63f.) 

Die in Mondkälber inszenierten Debatten sind nicht dazu da, verstanden, sondern in ihrer Abstrusität bloßgestellt zu werden. Deswegen setzt der Genuss der Lektüre dieses Romans eine gewisse Nonchalance sowie die Bereitschaft zu lachen voraus. Durch seine surreale Welt spazieren allerhand Tiere, von Grillen und Spinnen über Fledermäuse, Schlangen, Ratten, Waldohreulen und Rieseneintagsfliegen bis zu einem Wolpertinger (einem im bayerischen Kulturraum beheimateten Mischwesen aus der Werkstatt der Tierpräparatoren). 

Kuriose Details wie eine Mutter, die nur mit Sarg reist, vermitteln bisweilen das Gefühl des Morbid-Vergnüglichen. „Ach, Vernunft, heute angebetet, morgen guillotiniert!“ (S. 141), lautet einer der letzten Stoßseufzer der Icherzählerin in diesem ungewöhnlichen Buch.

Auch die Bildhauerin Irina scheint mit einer blühenden Phantasie begabt – oder bekommt diese zumindest zugeschrieben, wenn sie laut Icherzählerin glaubt, wie eine Kakerlake ein Oberschlundganglion zu besitzen und den Scharfschützen, der neuerdings die Stadt unsicher macht, mit unsichtbaren Fühlern wahrnehmen zu können. Irinas Kater Oskar erinnert, auch wenn er nicht sprechen kann, an den Kater Behemoth in Michail Bulgakows allegorischer Satire Meister und Margarita, bei der Simon gewiss auch andere Anleihen genommen hat – etwa jene, die Realitätsebene des Textes im Phantastischen anzusiedeln. 

Dieser heiter-melancholischen Stimmung bereitet ein Krieg ein Ende, der nicht so genannt werden darf – womit der Bezug auf den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine klar gemacht wäre. „Mich machte der Krieg bescheiden, ich wollte nur meine Träume wieder. Ich war gerne ein Kind meiner Zeit gewesen. Die Zeit, in der man an unheilbaren Frieden glauben durfte. Daran, dass der Klügste irgendwann auf den Klügeren hört, der Weiseste auf den Weiseren. Die Besatzer behaupteten, sie seien Befreier, doch befreit wollten wir nicht werden. Der einzig unheilbare Frieden war nun wieder der Tod.“ (S. 111f.)

Was Gideon, ein Journalist und „selbsternannter Experte für alles“ sowie Mitglied der „wissenschaftlichen Akademie moralischer Unternehmungen“, mit einem Scharfschützen zu tun hat, und wie Jewgenij die Revolution verrät, soll hier nicht verraten werden, wohl aber, dass diese Handlungsstränge am Schluss aufgelöst werden und dieser bisweilen ins Mutwillige tendierende Text noch zu einem Abschluss findet – wenn auch zu keinem erfreulichen, so wie es dem Genre der Dystopie ja auch gemäß ist.

 

Homepage von Kirstin Breitenfellner

 

Cordula Simon: Mondkälber
Roman.
Wien: Septime Verlag, 2024.
167 Seiten, Hardcover.
ISBN: 978-3-99120-045-1.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autorin sowie einer Leseprobe

Homepage von Cordula Simon 

 

Rezension vom 02.01.2025

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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