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Die Wölfe von Pripyat

Cordula Simon

// Rezension von Kirstin Breitenfellner

„Der Log ist alles, was der Fall ist“

Cordula Simon gehört zu den frühreifen Autorinnen. 2012 betrat sie mit 26 Jahren mit dem Roman Der potemkinsche Hund die literarische Bühne, zehn Jahre später legt sie ihr fünftes Werk vor. Wie beim potemkinschen Hund über das Frankenstein-Experiment eines wiedererweckten Toten in Odessa handelt es sich auch bei Die Wölfe von Pripyat um eine ausgeklügelte Science-Fiction mit genügend Realitätsbezug, um sie als Interpretation bzw. Extrapolation der Gegenwart und ihrer Debatten zu lesen, als deren aufmerksame, hellwache Beobachterin sich Cordula Simon von neuem erweist.

In 74 kurzen Kapiteln, die kunstvoll verschränkt sind, entwirft sie eine Welt, in der die Menschen von einer auf die Spitze getriebenen Political Correctness entmündigt werden. Ihre Technologien und Methoden kommen einem auf unheimliche Weise bekannt vor. Ein Algorithmus namens Log, mit dem jeder verbunden sein muss, hält die Menschen in Schach und erzieht sie zu Freundlichkeit, während eine Vulkanaschewolke und Terroranschläge die solchermaßen befriedete Gesellschaft bedrohen.

Wer Schwierigkeiten hat, sich dem System der „Toleranzunion“, die von einem „Juste Milieu“ beherrscht wird, zu unterwerfen, wird in ein Umerziehungslager nach Untermürbwies am Schöberteich geschickt – so wie die sechzehnjährige Emma, deren Vergehen darin besteht, sich aus Versehen in eine Bibliothek mit unzensurierten Büchern verirrt zu haben. Die naive Heldin lernt dort eine Gruppe von Dissidenten kennen, Jackie, Richard und Potz, mit denen sie aus dem Lager türmt, ohne das eigentlich gewollt zu haben. Die Flucht hat mit den titelgebenden „Wölfen von Pripyat“ zu tun, die es nicht nur in dem Computerspiel Virtuali gibt, sondern auch in der wirklichen Welt. Und mit einem Konsul, den die kleine Gruppe suchen will.

„Geloggt“ zu sein bedeutet in dieser Welt, durch einen Chip im Handgelenk mit einem persönlichen Assistenten verbunden zu sein, der Termine managt, auf Plattformen postet und Likes abgibt oder den Gefühlshaushalt des Gechipten mit Hormonen reguliert. Das Internet hat die reale Welt ersetzt und bedeutet nicht nur Zugang zum Glück, sondern auch „alles, was der Fall ist“. Die Natur hingegen gilt nur noch als etwas Mühsames, das erfolgreich besiegt wurde, denn sogar das Wetter wird vom Log kontrolliert, dem großen Beschützer und Herrscher, der beinahe wie ein Gott angebetet wird. Er sorgt für den reibungslosen Alltag genauso wie für den sozialen Frieden – inklusive der Kreation probater Feindbilder. „Gerade dass der Log nicht fragte, ob er auf die Nervenenden des Mastdarms zugreifen konnte, um das passende Klopapier für einen zu bestellen“, heißt es an einer Stelle süffisant.

„Der Log war das einzige Menschenrecht, das man brauchte“, findet Emma. Aber nicht alle sind so vertrauensselig, etwa der Wetteransager Sandor Karol aus dem zweiten Handlungsstrang des Romans, der sich nur widerwillig loggen lässt und der „morphologischen Freiheit“ des Geloggtseins so skeptisch gegenübersteht, dass er sich schließlich den Chip selbst aus der Hand operiert und flüchtet. (Menschen können ihren Log auch in einem Reiskorn aufbewahren, um später noch einmal zu leben. Diese Reiskörner firmieren aber inzwischen als Drogen.)

In der schönen neuen Welt der Political Correctness, die Cordula Simon entwirft, erfolgt der Zugriff des Logs auf die Wirklichkeit vor allem über die Sprache, die bittere Wahrheiten mit süßen Worten verbrämt. Er verbietet nicht nur Wörter, sondern deutet sie auch um. So heißt „abkommandieren“ jetzt „einladen“, „in Waffen zu stehen“ nennt man lieber „Frieden sichern“, und „Zwang“ hört sich besser an, wenn man ihn als „Möglichkeit“ bezeichnet. Totschlagargumente werden vom in Selbstgerechtigkeit erstarrten „Juste Milieu“ zur Erziehung der entmündigten Bevölkerung gerne eingesetzt: „Wir kämpfen auf der Seite der Unterdrückten, wer dies nicht sieht, gehört offensichtlich selbst zu den Unterdrückern.“

Auch an Genen, die nicht genehm sind, wird herumgedoktert. „Gecrispert heißt das im Roman in Anspielung auf die Genschere Crispr, für die die Mikrobiologin Emmanuelle Charpentier 2020 den Nobelpreis für Chemie erhielt. Auf diese Weise werden Krankheiten ausgemerzt, aber Eltern können sich auch Kinder „zusammencrispern“, zum Beispiel mit dunkler Haut, um ihnen „die wahre Erfahrung des an den Rand Gedrängten“ zu vermitteln und sie damit zu „besseren Menschen“ zu machen. Manchmal entstehen dabei allerdings „verpfuschte“, sprich in grotesker Form überperfektionierte Menschen, wie Jackie, mit der Emma aus dem Lager flieht und die bald darauf entführt wird. „Wer in einer Diktatur lebt, bemerkt das oft nicht. Sie reden hier von Menschlichkeit, aber sie wollen uns zu Maschinen machen“, schreibt Jackie aus ihrer Gefangenschaft an einen unbekannten Empfänger.

Die Zeitrechnung in dieser Welt erfolgt in „Jahren des Konsuls“. Während der Handlungsstrang um den Wettermann Sandor, der unverdient einen Shitstorm erhält und in den Untergrund muss, im „Jahr des Konsuls“ bzw. „Im Jahr 1 vor dem Konsul“ spielt, ist derjenige um die Flucht der jungen Dissidenten „Im Jahr 1016 des Konsuls“ angesiedelt. Der Log scheint diese Welt also nachhaltig besiegt zu haben. Allerdings nicht vollständig. Denn hinter den Grenzen der „Toleranzunion“ liegt das „Goldene Reich, wo einst die großen Republiken des Ostens, China, Russland und die Steppenstaaten waren“. Und eventuell sind auch nicht tausend Jahre vergangen seit Einführung der neuen Chronologie. Doch das erschließt sich erst allmählich. Die Handlung springt kapitelweise zwischen diesen beiden Zeitzonen, mit einem Cliffhanger an jedem Kapitelende, und es fordert beim Lesen zunächst einiges an Aufmerksamkeit, sich in diese dystopische Welt einzudenken. Doch dann setzt Spannung ein.

Der Zusammenhang der beiden Handlungsstränge wird erst gegen Ende des Romans aufgeklärt – aber nicht zur Gänze. Und den Teenagern gelingt es nicht, „die Welt zu retten“ oder gar die gekappte Verbindung zur Natur wiederherzustellen, zu deren Chiffre die Wölfe von Pripyat gehören. Sie sind vermutlich nur Menschen, die unter Freiheit ein Leben ohne Log verstehen und damit für das „Juste Milieu“ den Fortschritt sabotieren, aber ihr Geheimnis wird nicht ganz aufgedeckt. Pripyat heißt bekanntlich jener Ort bei Tschernobyl, der nach der Reaktorkatastrophe in Cordula Simons Geburtsjahr 1986 evakuiert wurde, seitdem der (verstrahlten) Natur anheimgegeben blieb und allmählich von Tieren und Pflanzen zurückerobert wurde.

Um die Sprünge und Andeutungen von Die Wölfe von Pripyat besser zu verstehen, müsste man den Roman mit seinen vierhundert eng bedruckten Seiten vermutlich ein zweites Mal lesen, aber auch daraus würde sich wohl kein rundes Bild geben, denn die Welt, wie Cordula Simon sie sieht, ist nicht lückenlos verständlich und gerade deswegen faszinierend. Wie in allen bisherigen Büchern wird auch hier der Hang zu apokalyptischen Szenarien durch einen befreienden Humor gemildert. Etwa wenn privilegierte Eltern ihren „Premiumkindern“ abstehende Ohren crispern lassen – die aufmerksamen Zeitgenossen auch im realen Leben des Jahres 2022 bei den Models auf den Laufstegen der großen Modehäuser auffallen könnten. Die von der Kritik bisweilen monierte metaphorische Überfrachtung von Simons früheren Werken ist einem nüchternen, beinahe lapidaren Duktus gewichen. Die Fragen, die sie mit Die Wölfe von Pripyat aufwirft, regen zum Weiterdenken an. Medien-, Technik- und Sozialkritik mit dystopischem Suspense – in einer Verfilmung würde der Roman wohl in einer Reihe stehen mit erfolgreichen Produktionen wie Tribute von Panem nach der Trilogie von Suzanne Collins aus den Jahren 2012 bis 2015 mit ihren jugendlichen Protagonisten oder der unheimlichen Cannel-4-Anthologie-Serie Black Mirror (2011–2019). Keine schlechte Gesellschaft.

Cordula Simon Die Wölfe von Pripyat.
Roman.
Salzburg, Wien: Residenz Verlag, 2022.
399 Seiten, gebunden.
ISBN 9783701717507.

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Rezension vom 15.03.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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