#Roman

Perfekte Menschen

Andrea Grill

// Rezension von David J. Wimmer

Perfekte Menschen. Ein anachronistischer Zukunftsroman

Andrea Grill gehört wohl zu den vielseitigsten österreichischen Autor:innen der Gegenwart. Man kennt sie als Lyrikerin – höchst interessant und empfehlenswert das gemeinsam mit Anja Utler entwickelte Projekt stadtlandflussgetier.org –, als Übersetzerin (aus dem Albanischen), Essayistin, Sachbuch- und Romanautorin. Jüngst ist mit Bio-Diversi-Was? (Leykam, 2023) ein in Zusammenarbeit mit Sandra Neuditschko wunderschön gestaltetes Kinderbuch zur Artenvielfalt erschienen und mit Perfekte Menschen hat die habilitierte Evolutionsbiologin nun auch einen Science-Fiction-Roman vorgelegt.

Vielleicht nicht perfekt, aber doch einigermaßen positiv kann einem die Welt, die Grill darin entwirft, zumindest auf den ersten Blick erscheinen. Die Handlung des Zukunftsromans spielt irgendwann in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts und vieles, um das wir heute angesichts diverser Katastrophen und Krisen fürchten, gibt es noch: Es gibt ein geeintes, friedliches Europa, das scheinbar ohne Nationalstaaten auskommt und von Wohlstand geprägt ist; es gibt eine einigermaßen intakte Natur und es gibt Kinder mit Eltern, die ohne allzu große Sorgen Kinder in die Welt setzen. Vieles, was wir heute fürchten, gibt es dafür nicht mehr: Es gibt keine Vollzeitarbeit mehr – alle arbeiten in Teilzeit und leben gut davon, es gibt keine gefährlichen Viren mehr, keine Krankheiten und überhaupt gibt es keine Katastrophen mehr, weil eine nicht näher bestimmte Obrigkeit alles daransetzt, jedes Risiko für Leib und Leben vorherzusagen, zu vermeiden, ja gänzlich abzuwenden.

Es ist also eine unerhörte Begebenheit, wenn die Handlung im kleinen Dorf Mat im heutigen Albanien mit einem schicksalsträchtigen Unfall einsetzt: Michael, die Hauptfigur, fällt als kleines Kind, das kaum krabbeln kann, in einen Fluss.

„MICHAEL FIEL. Das sollte seine erste Erinnerung sein. Er fiel und landete als silbriger Tropfen im Wasser, plötzlich erstarrt. Eine dieser Figuren aus geschmolzenem Zinn und Blei, die einst zur Jahreswende die Zukunft vorhersagten – das war er.“  (S. 10)

Michael wird gerettet, seine Mutter zieht ihn aus der Strömung, schenkt ihm, wie es im Text heißt, ein zweites Mal das Leben, womit die eigentliche Handlung, eine Coming-of-Age-Geschichte, beginnt. Im ersten Unglück deutet sich aber bleigusshaft schon vieles an, was noch kommt – auch der Ton ist damit gesetzt.

Sie habe mit dem Buch einen Mythos, eine Legende schreiben wollen, sagt Andrea Grill, eine große menschliche Tragödie, gewissermaßen etwas Überzeitliches, das sich so in der Vergangenheit wie in der Zukunft erzählen lässt. Und das gelingt dem Buch auch, wenn es in einer immer wieder zur Poesie hindrängenden Sprache vom Aufwachsen Michaels zwischen der naturverbundenen Mutter Helena und dem technikaffinen Vater Milosh erzählt und dabei fast märchenhafte Bilder schafft, die einen das eigentliche Science-Fiction-Setting vergessen lässt. Wenn etwa der Fluss in Reaktion auf das Unglück unter die Erde verbannt wird, wenn sich in Antwort darauf der Nebel wie ein Wattebausch über das Land legt oder wenn es über das heranwachsende Kind heißt: „Er wächst wie Kohl, ist schön wie ein Küken.“ (S. 26)

Grill beschreibt eine zauberhafte, ja sonderbar entrückte Kindheit, die wiederum durch eine unerhörte Begebenheit ein allzu frühes Ende findet. Im Alter von acht Jahren wird Michael entführt – bewaffnete Männer dringen in sein Elternhaus ein, nehmen ihn mit und bringen ihn fort, in ein Camp, wo er und andere entführte Kinder zu perfekten Kriegern erzogen werden sollen:

„Nur ohne Vergangenheit und Zukunft wurde man ein vollkommener Krieger. Nur wer das Leben nicht liebte, war ein perfekter Mensch. Und das war das Ziel des Camps: perfekte Menschen ausbilden.“ (S. 110)

Die Erzählung bricht mit der Entführung – formal wie auch inhaltlich – kippt vom Utopischen ins Dystopische, auch weil sich die hochtechnisierte Erzählwelt, in der es keine Katastrophen mehr gibt, nach und nach selbst als Katastrophe erweist – überall werden Kinder entführt, ‚unberührte Natur‘ existiert nur noch als Attrappe und hinter der vermeintlich utopischen Technokratie kommt ein autoritäres System zum Vorschein, das offenbar auf absoluter Überwachung aufbaut. In all dem wird Michael unter wortwörtlich spartanischen Umständen – tägliche Drills und Indoktrinierung über mediale Dauerberieselung stehen im Camp an der Tagesordnung – langsam zu einem jungen Mann, der sich Zukunft und Vergangenheit nicht nehmen lässt, der seine Widerständigkeit und Hoffnung beibehält.

Mit dem Motiv des Kindsraubs greift Grill, wie auch das Vorwort des Romans offenlegt, eine ottomanisch-albanische Legende auf, den Mythos von Ballaban Badera, der wiederum auf historische Begebenheiten aus dem 15. Jahrhundert zurückgeht. Badera wird wie Michael als Kind entführt, um am Hof des ottomanischen Sultans zu einem Janitscharen, einem Elitesoldaten, ausgebildet zu werden. Als Offizier kehrt er zurück, um gegen sein eigenes Volk in den Krieg zu ziehen, auch seinen eigenen Bruder bekämpft er – in Albanien gilt er daher als Verräterfigur.

Die Autorin nimmt ihrer Hauptfigur jene Ambivalenz des Bruderzwists, nicht aber die Tragik – Michael bleibt vorwiegend Opfer, die Täter:innen diffus und weitgehend ohne Gesicht –, vielmehr zeichnet sich im Laufe der Handlung das Bild einer allgemeinen Bedrohung, die im Camp nur eine Ausformung findet. Auch damit erfährt der Stoff eine Aktualisierung, die an die Science-Fiction-Grundierung des Romans, die mit Michaels Entführung immer präsenter wird, anschließt.

Es ist eine eigenwillige, teilweise widersprüchliche Melange, die der Text damit schafft – wenn er den punktuell fast formelhaften Ton der Legende mit dem immer auf ein Mindestmaß an erklärendem World-Building angewiesenen Modus der Science-Fiction verquickt. Auch hier lassen sich deutliche Referenzen ausmachen. Die Verlagswebsite von Leykam nennt George Orwell und Margaret Atwood als Bezugsgrößen, über den hyperbolisch gebrochenen Titel und das Motiv der Fieelys, gewissermaßen Smartphones auf Speed, drängt sich Aldous Huxleys Brave New World allerdings eher auf. Und auch sonst ist der Text gespickt mit Topoi und ‚tropes‘ der SF, die heute oftmals knapp an der Realität schrammen. So verdingt sich Michaels Vater Milosh als Programmierer virtueller Welten, die sich über spezielle Anzüge erleben lassen, Michael wächst mit einem „Playmate“, einem künstlichen, roboterhaften Spielgefährten auf und macht später seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einem Cyborg, den er lange Zeit für einen ‚echten‘ Menschen hält. Vieles wird herbeizitiert und doch will der Text keine klassische Science-Fiction, keine ausgewachsene Dystopie und auch keine reine Legendenerzählung sein, sondern irgendetwas dazwischen.

Durch die Motivfülle und die immer wieder wechselnde Tonalität entsteht ein facettenreicher Text, der sich in seinem nahezu parabelhaften Gestus auf etliche ‚Probleme unserer Zeit‘ applizieren ließe. Geht es um das Recht der Kinder und jüngerer Generationen auf eine Zukunft? Geht es um die Gefahren einer allzu einseitigen, auf Effizienz getrimmten Wissenschaft? Geht es um die unerschütterliche Liebe zwischen Eltern und ihrem Kind und um Vereinzelung? Geht es um einen problematischen Anthropozentrismus, um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, zwischen Mensch und Technik? Oder geht es doch um die Utopie der Kunst? Der Text lässt all diese Lesarten gleichrangig nebeneinander zu, ohne sich festzulegen, und verbleibt so in einer (oftmals gewinnbringenden) Offenheit, die nicht auf eindeutige Aussagen baut – bis zum Schluss.

Erzählerisch kann der Roman dabei aber auch frustrieren, weil er mehr als einmal Motive einführt und Handlungsstränge aufgreift, nur um sie im nächsten Moment wieder fallen zu lassen, weil zentrale Handlungselemente bis zuletzt unerklärt bleiben und an etlichen Stellen das Erzähltempo angezogen und die Handlung ohne erzählerische Notwendigkeit deutlich gerafft wird – der auf knapp 170 Seiten Platz findende Plot ließe sich gut und gerne auch in doppelter Länge (aus)erzählen. Einigen Handlungselementen hätte mehr Raum gutgetan, andere hätte man vielleicht auch weglassen können.

Aber vielleicht liegt gerade darin auch eine Qualität des Textes, in einer gewissen Widerständigkeit gegen jene fragwürdige Perfektion, die schon im Titel steckt, in einer Erzählform, die im Märchenhaften, im Mythos hoch ansetzt, sich aber die Freiheit nimmt, zwischendurch den Ton zu wechseln und auszufransen, und die sich dabei gegen gestreamlinte Erzählungen und zwanghaft auf Aktualität und Aussage getrimmte Formen der Literatur sperrt. In einer Gegenwart, in der man sich von Science-Fiction und Zukunftsromanen eher das Gegenteil, exakte Extrapolation, mehr oder weniger konkrete Handlungsanweisungen und Antworten auf aktuelle Probleme, erhofft, hat der Text damit etwas erfrischend Anachronistisches.

 

David J. Wimmer, geb 1993 in Tamsweg. Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Graz und Bristol. Abschluss 2019 mit einer Master-Arbeit zu Gerhard Roth. Wiss. Mitarbeiter am Franz-Nabl-Institut in Graz. Arbeitet an einer Dissertation zum Werk von Clemens J. Setz. Kulturschaffender in unterschiedlichen Konstellationen (Film, Literatur, Theater). Mitglied des Autor:innenkollektivs plattform. Letzte Publikationen: Glitches, Bots und Strahlenkatzen. Gegenwart bei Clemens Setz. (Hg. mit Klaus Kastberger, Sonderzahl 2022)

Andrea Grill Perfekte Menschen
Roman.
Graz/Wien: Leykam, 2024.
192 Seiten, Hardcover mit Lesebändchen.
ISBN 978-3-7011-8321-0.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin sowie einer Leseprobe

Homepage von Andrea Grill

Rezension vom 29.04.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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