#Prosa

Routinen des Vergessens

Raphaela Edelbauer

// Rezension von Daniela Chana

Kann eine Aussage über fiktionale Figuren und Gegebenheiten in einem literarischen Text „wahr“ sein – oder sind alles nur „Lügen“, wie Aristoteles einst in seiner Poetik konstatierte? Dieser und anderen Fragen geht Raphaela Edelbauer in ihren Wiesbadener Poetikvorlesungen nach, die unter dem Titel Routinen des Vergessens bei Cotta erschienen sind.

Die 1990 geborene Raphaela Edelbauer ist bereits in sehr jungen Jahren zu einer der erfolgreichsten österreichischen Autor:innen avanciert. Jeder ihrer Romane fuhr zahlreiche Preise und Nominierungen ein, für Dave erhielt sie schließlich 2021 den Österreichischen Buchpreis. Im Wintersemester 2023/24 hatte sie die Poetikdozentur der Hochschule RheinMain und des Kulturamts der Landeshauptstadt Wiesbaden inne und setzte sich im Rahmen zweier Vorlesungen kritisch mit dem Prozess des Schreibens und dem Wechselspiel von Wahrheit und Fiktion in der Literatur auseinander.

In ihren poetologischen Ausführungen geht Edelbauer spielerisch an ihren Stoff heran. Trotz zahlreicher Exkurse zu verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen, vor allem zur Mathematik, gelingt es ihr, durchgehend einen humorvollen und unterhaltsamen Ton beizubehalten. Die Bezugnahme auf unterschiedliche Gebiete stammt auch daher, dass sie Fachsprachen als Fundus betrachtet, aus dem sie schöpfen kann, als „abgekapselte Schatzkammern von Ausdrucksweisen“ (S. 23), die ihr einen jeweils eigenen, spezifischen Blick auf die Welt ermöglichen.

Die Art, in der Literatur zu Erkenntnisgewinn führt, lässt sich laut Edelbauer am besten mit dem philosophischen Konzept der „Exemplifikation“ des US-amerikanischen Philosophen Nelson Goodman beschreiben. Demnach trage ein fiktionaler Text zur Wahrheitsfindung bei, indem er eine grundlegende Erkenntnis beispielhaft anhand einer erfundenen Geschichte darstelle. Spannend daran ist, dass Edelbauer durch ihr Weiterdenken dieser Idee die Trennung zwischen Kunst und der angeblich „nüchternen“ Wissenschaft in Frage stellt. Wie sie aufzeigt, wird schließlich auch in den Naturwissenschaften mit dem Imaginären gearbeitet: So lasse sich etwa das Gesetz der Gravitation am eindrücklichsten anhand eines erfundenen Beispiels kommunizieren, nämlich dass ein Handy zu Boden stürzt, wenn man es fallenlässt. Das imaginierte Handy als Einzelfall werde also herangezogen, um eine tiefere Wahrheit sichtbar zu machen (S. 50). Folglich konstatiert die Autorin: „Erkenntnis erfordert Fiktion, und ich bin überzeugt, dass dies für alle Erkenntnis gilt.“ (S. 32)

Daraus ergibt sich, dass die Unterscheidung zwischen „Wahrheit“ und „Fiktion“ nahezu obsolet wird: Wenn etwas Erfundenes benötigt wird, um ein Naturgesetz begreifbar zu machen, so kann es tatsächlich nicht als bloße „Erfindung“ abgetan werden. Die Aufhebung dieser Trennung führt in der Folge zu Edelbauers Theorie der „zweiseitigen Metapher“, in der es „kein genuin Übertragenes und kein Gemeintes“ gibt, sondern von einer komplexeren Dynamik auszugehen ist, in der beide Bereiche sich wechselseitig und gleichberechtigt aufeinander beziehen (S. 117).

Den literarischen Schaffensprozess, dem die Methode der Exemplifikation zugrunde liegt, beschreibt Edelbauer so: „Die erzählte Geschichte betrachte ich wie ein Gewand, das ich einer zuvor ersonnenen Struktur (quasi einem Ideen-Mannequin) anziehe. Obwohl es maßgefertigt ist, ist es doch wesentlich variabler als das zugrundeliegende Modell.“ (S. 23) Die Figuren sind für Edelbauer nur austauschbare Platzhalter, die einzig und allein dazu dienen, einer tieferen Erkenntnis auf die Spur zu kommen. Sie stehen niemals für sich, sondern komplett im Dienst einer übergeordneten Botschaft: „Charaktere, die in meinen Texten auftreten, behandle ich als Figuren, nicht als Personen [].“ (ebenda)

Besonders lesenswert wird der Band aufgrund der persönlichen Einblicke in die Schreibwerkstatt der Autorin, in denen sie einen sehr akademischen Zugang zu ihrem Handwerk offenbart. Sie betont die Notwendigkeit, sich stets weiterzubilden, unermüdlich die eigene Sprache ebenso wie die Eigenheiten diverser Fachsprachen, Dialekte, Slangs und fremder Idiome zu studieren, um immer sicherer darin zu werden. Diese eklektische Herangehensweise zeigt sich auch in den mannigfaltigen Referenzen ihrer Ausführungen: So schöpft sie ihre Erkenntnisse nicht nur aus Sprachphilosophie und Literaturwissenschaft, sondern ebenso aus Klassikern wie Sherlock Holmes, Videospiel-Design und indischer Philosophie buddhistischer Tradition aus dem 5. Jahrhundert.

In der zweiten Hälfte ihrer Ausführungen wendet Edelbauer sich schließlich der Methode zu, die sie – titelgebend für ihre Vorlesungen – als „Routinen des Vergessens“ bezeichnet: Wer als Autor:in schöpferisch tätig ist, müsse immer wieder in der Lage sein, gewisse Grundregeln der Sprache temporär zu „vergessen“ – wobei sie mehrfach betont, dass „Vergessen“ nicht dasselbe bedeute wie etwas nie gewusst zu haben. Erst damit werde die Voraussetzung für das Herausbilden neuer, origineller Formen geschaffen, schließlich gehe es darum, nicht bloß „in der Sprache zu arbeiten, sondern vor allem an der Sprache.“ (S. 56). Zur Veranschaulichung zitiert die Autorin längere Passagen aus ihren persönlichen Arbeitsjournalen und gewährt somit kostbare Einblicke in den Entstehungsprozess ihrer Werke. Alleine dafür lohnt sich bereits die Lektüre!

Auch wer mit Edelbauers Romanen nichts anfangen kann, könnte an Routinen des Vergessens seine Freude haben. Zwar können die Vorlesungen zu einem tieferen Verständnis der Texte der Autorin beitragen, vor allem in Hinblick auf strukturelle Überlegungen während des Schaffensprozesses, ihre Gedanken über das Schreiben und das Lesen von Literatur weisen jedoch weit über ihr eigenes Werk hinaus.

Daniela Chana, geb. 1985 in Wien, promovierte an der Universität Wien im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft. Ihr Gedichtband Sagt die Dame (Limbus Verlag), wurde 2019 unter die Lyrik-Empfehlungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gewählt. 2021 folgte, wieder bei Limbus, der Erzählband Neun seltsame Frauen, der Chana eine Nominierung auf der Shortlist des Österreichischen Buchpreises eintrug. Für die österreichische Tageszeitung Die Presse schreibt sie regelmäßig Essays über Themen des Alltags und der Literatur.

Raphaela Edelbauer Routinen des Vergessens
Stuttgart: Cotta, 2024.
144 Seiten, broschiert.
ISBN: 978-3-7681-9808-0.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autorin sowie einer Leseprobe

Homepage von Raphaela Edelbauer

Rezension vom 29.01.2025

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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