#Roman

Wolkenjagd

Philipp Hager

// Rezension von Sabine Schuster

„Vielleicht wartete irgendwo in der Zukunft ein Leben, das heil sein würde, das nicht nur aus Mauern und Albträumen bestand“ – so sinniert der junge Ich-Erzähler in Philipp Hagers letztem Roman „Liebe unter Einzellern“ aus dem Jahr 2016. Nun, zwei Jahre später, in Wolkenjagd, ist der Romanheld diesem Ziel schon ein gutes Stück näher gekommen.

Die Fragen, woraus sich ein Leben zusammensetzt, welche Kräfte einem Menschen Antrieb und Richtung verleihen und wie man am Nullpunkt wieder neu beginnt, bleiben jedoch das große Thema des 35-jährigen niederösterreichischen Autors, der jahrelang als Reporter und Kolumnist für ein deutsches Kampfsportmagazin in Europa unterwegs war und vor 15 Jahren mit dem Schreiben begonnen hat. 2008 erschien sein Debutroman „Das Spektrum des Grashalms“, Wolkenjagd ist bereits Philipp Hagers zehntes Buch. Der Titel stamme, so der Autor, aus einem Gedicht von Friedrich Nietzsche, in dem der Mistralwind als Wolkenjäger den Himmel klärt. (NÖNat, 02.03.2018)

Der Romanheld hat dann auch einiges zu klären, bevor er in Ruhe den Himmel betrachten kann: Ein Gefängnisaufenthalt, Familientragödien, eine desaströse Liebe bringen ihn an den Tiefpunkt seines Lebens. Dort angekommen lässt er seine Kindheit Revue passieren, das Alleinsein, den jugendlichen Übermut, bis er sich auf die Reise zurück begibt. Er beginnt, die Schönheit der Welt für sich zu entdecken und ein umfassendes „Ja“ zum Leben und zur Gesellschaft zu formulieren.
Erstmals blitzt dieses „Ja“ beim Lesen auf, es ist Henry Millers autobiografischer Tagebuchroman „Wendekreis des Krebses“, der den jungen Ich-Erzähler nach Anlaufschwierigkeiten plötzlich in seinen Bann zieht und ihm einen völlig neuen Blick auf die Welt öffnet:
„Der Wendekreis hatte die wütende Wucht eines geschleuderten Pflastersteins. Ich hatte nichts damit anzufangen gewusst: mit den verworrenen Monologen, der Aufschneiderei, der brutalen Entblößung. An diesem Tag, in dieser Stunde aber entschlüsselte sich mir das Chaos seines Aufruhrs. Alles andere wurde fortgeblasen, jedes Wort, das ich bis dahin gelesen hatte. Ein Gefühl des tiefsten Wiedererkennens ergriff von mir Besitz. Ich war zweiundzwanzig und hörte zum ersten Mal meine Muttersprache.“ (S.39f)
Ist der skandalumwitterte Miller mit seinem orgiastischen Hymnus – der „Wendekreis des Krebses“ erschien erstmals in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts und inspirierte später die Autoren der Beat-Generation – ein Gegenpart zum mächtigen Großvater, der im Kopf des Erzählers ebenfalls tiefe Spuren hinterlassen hat? Allerdings in einer ganz anderen Sprache. Er verkörpert „Richtigkeit“, einfache Linien, harte Kontraste, Standhaftigkeit, „die Frucht von tausend Jahren Katholizismus und stolzem Bauerntum“ (S.9). Um ihn herum „finden die Klänge des Lebens ihr Gleichgewicht“, um nach seinem Tod, als die familiäre Ordnung allmählich zerfällt, schrill und bedrohlich zu werden.
Zugehörigkeit und Richtung auf der einen, Abenteuer und Gefahr auf der anderen Seite – dies sind die Gegensätze, die der junge Romanheld exzessiv auslotet, und das nicht nur beim Lesen. Schon als Bub, bei einem nächtlichen Einbruch in seiner eigenen Schule, spürt er erstmals, wie diese konträren Energien einander berühren. Der tagsüber vertraute Klassenraum erscheint nachts unheimlich und voller Schatten:
„Aber davor, vor unserer Flucht durch das Gebäude, stand der Augenblick, in dem ich das Fenster zum Klassenraum aufdrückte. Untertags beherbergte er helle Stimmen, Richtung, Gewohnheit, Zugehörigkeit. Jetzt war er von allem entkleidet. Ein Gefäß, das sich mit Abenteuer füllte, mit Rätsel, Gefahr, Unberechenbarkeit. Als ich mich vom Rahmen rutschen ließ und auf dem Holzboden landete, kreuzten sich diese Gegensätze, die sich sonst niemals berührten. (…) Es war die erste flüchtige Vorahnung einer Welt, in der die Unvereinbarkeit der Wirklichkeiten, zwischen denen ich schwankte, aufgehoben war.“ (S.23f)
Zwischen diesem magischen Moment und dem ekstatischen Eintauchen in den Fluss des Lebens am Romanende (siehe Leseprobe) könnte ein ganzes Leben liegen, bei Philipp Hager geht das deutlich schneller, die Ereignisse erstrecken sich auf wenige Jahre und laufen im Zeitraffer ab: Der Vater ist bankrott und nach einem skurrilen Suizidversuch gerade noch am Leben, das Familienerbe verloren, der Erzähler kriminell und nach einer spektakulären Verhaftungsszene im Gefängnis. Danach die Selbstfindung im Kampfsport, die einem spirituellen Erweckungserlebnis gleicht:
„Um dieses erste Training in Worte zu fassen, genügt es nicht, das Gefühl der nackten Füße auf den Matten zu beschreiben, so intensiv und eindringlich es auch war. Es genügt nicht, von den Schmerzen zu erzählen oder davon, dass die geborgten Handschuhe nach Schweiß stanken. Kein noch so treffendes Detail wird ihm gerecht. Es war etwas völlig Fremdes, völlig Neues wie die Entdeckung eines weiteres Lebensraumes neben Erde, Wasser und Luft. Am ehesten glich es einem Blitz. (…) Er geht auf im Leuchten des Augenblicks, in der Erfüllung des reinen Moments.“ (S.62)

Philipp Hager bringt diesen Entwicklungsbogen ökonomisch auf 120 Seiten unter, ohne dass etwas fehlt. Ein szenischer Rückblick in fünf schlanken Kapiteln, an dessen Ende der Romanheld den Schriftsteller in sich entdeckt, um uns später seine Geschichte zu erzählen. Seine Hauptfigur ist lebendig und facettenreich, voller Adrenalin, die Sprache rau und ungefiltert, gleichzeitig aufgeladen mit Bildern, Stimmungen und Farben in hoher Dosierung. Weniger wäre hier manchmal mehr, trotzdem wirkt diese existenzielle Prosa in ihrem Überschwang authentisch.
Man glaubt dem Erzähler, der nah am realen Autor konstruiert ist, seine Verankerung im echten Leben, und das ist spannend und lesenswert.

Philipp Hager Wolkenjagd
Roman.
Wien: Braumüller, 2018.
120 S.; geb.
ISBN 978-3-99200-205-4.

Rezension vom 29.05.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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