#Roman

Pink Elephant

Luca Kieser

// Rezension von David Wimmer-Wallbrecher

Zwischen zwei Kopfnüssen

Es ist Mitte 2006: Deutscher Gangsta-Rap erlebt gerade seine erfolgreichste Zeit, Sony Ericson Handys sind der ‚heißeste Scheiß‘ und Deutschland soll bei der Heim-WM den ersehnten vierten Titel nach 1954, 1974 und 1990 holen. Das ganze Land fiebert dem Großereignis entgegen, zum Soundtrack von Herbert Grönemayer und den Sportfreunden Stiller, die zum patriotischen Mitgrölen animieren und schon vorab wissen: „’s nächste Mal wird’s ′ne Sensation“, weil, das weiß auch Coca Cola so kurz vor der WM: „Statistisch gesehen wird Deutschland in Deutschland immer Weltmeister“ – aber Vince, knapp 14, interessiert das nicht, er hat keine Lust auf eine solche Sensation, keine Lust auf vollgeklebte Stickeralben („Scheiß-Panini-WM-Sammelhefte“), keine Lust auf Schwarz-Rot-Gold – nicht mehr -, denn da war dieser Vorfall mit der Kopfnuss. Und auch wenn er mit einer blutenden Nase ins Lehrerzimmer gebracht wurde, in ihm das Opfer der ganzen Aktion gesehen wird, plagt ihn ein schlechtes Gewissen.

Denn sein Freund Tobi hat die beiden anderen als „Scheißasylanten“ beschimpft, er hat den einen wegen seines jugendlichen Bartwuchses aufgezogen und Vince ahnt auch, welche Folgen die ganze Situation für die beiden anderen haben könnte. Die beiden anderen sind Tarek und Ali – zwei Gleichaltrige, die in Vincents Parallelklasse gehen; Jungs aus dem Plattenbau, aus „einem sogenannten Brennpunkt“ einem „Problembezirk“, wie Tobi, der wie Vince aus einem ‚besseren‘ Teil der Stadt (wohl Tübingen) kommt, von seiner Mutter weiß. Der Vorfall markiert das Ende einer Freundschaft – zwischen Tobi und Vince – und den ‚Beginn einer wunderbaren [und letztlich tragischen] Freundschaft‘ – zwischen Vince, Ali und Tarek.

Es ist kein Zufall, dass Luca Kieser die zentrale Freundschaft, um die er seinen zweiten Roman Pink Elephant aufbaut, gerade mit einer Kopfnuss beginnen lässt. Kommt es doch 2006 im Rahmen der WM zu der wohl berühmtesten Kopfnuss der jüngeren (Sport-)Geschichte – Zinedine Zidane verabschiedet sich mit einer ebensolchen Kopfnuss und der daraus resultierenden Roten Karte in der Nachspielzeit des Endspiels zwischen Frankreich und Italien vom grünen Parkett. Zinedine Zidane, genannt Zizou, der als Sohn algerischer Einwanderer ebenso in einem Plattenbau im 15. Arrondissement in Marseille aufwuchs – auch ein „Problembezirk“; der mit zwei Toren im Finale der WM 1998 Frankreich zum Titel und sich selbst zum Nationalhelden schoss; der heute zu den höchstdekorierten Spielern und Trainern des Sports zählt und der 2006 bei seinem angekündigt letzten Turnier als Kapitän seiner Mannschaft kurz davor stand, ein anderes ‚Sommermärchen‘ zu schreiben. So endet die Handlung gewissermaßen auch mit einer Kopfnuss – heißt das letzte Kapitel doch Finale und spielt sich während des genannten Endspiels ab.

Zizou spielt vordergründig allerdings keine allzu große Rolle für die Handlung des Romans, es finden sich nur einige, teils auch einigermaßen versteckte Verweise auf ihn. Doch zeigt sich an ihm, wie der Text einen reichhaltigen Hintergrund zum Vordergrund der Handlung aufbaut, wie Kieser immer wieder Motive in seinem Text platziert, die auf größere Zusammenhänge hinter der konkreten Coming-of-Age-Geschichte verweisen, all das ohne allzu konstruiert zu erscheinen. Wohl auch, weil der Autor punktuell autobiografische Aspekte in die Handlung einfließen lässt. Die mehrbödigen motivischen Verkettungen ergeben sich damit gewissermaßen natürlich – Fußball, fragwürdige Männlichkeitsbilder, verirrter Patriotismus und Nationalstolz, Rassismus, aber auch Inklusion und Integration – das passt in einer hochkomplexen Konstellation zusammen, bildet die Folie für eine formal nicht minder komplexe Erzählung, die Kieser um Vince, Ali und Tarek spinnt.

Schon mit seinem Debütroman Weil da war etwas im Wasser (Picus, 2023) bewies Kieser sein außerordentliches Talent für verstrickte Erzählsituationen – zehn Tentakel erzählen da eine weitreichende Geschichte, die sich über fast alle Kontinente und mehrere Jahrhunderte erstreckt. Die Handlung von Pink Elephant behandelt im Wesentlichen zwar nur einen Sommer in einer deutschen Kleinstadt und mit Vince gibt es auch nur eine Erzählfigur, doch erzählt der Text in etlichen Zeitsprüngen auf mehreren Ebenen kunstvoll um ein weiteres Ereignis herum und nähert sich so nach und nach diesem bis zuletzt nicht eindeutig aufgelösten Unglück an.

Der Text entwickelt in diesem komplexen Arrangement einen erzählerischen Sog, einen treibenden Rhythmus, der einem den Sound der immer wieder auch wörtlich zitierten Hip-Hop-Songs allein durch die Form vors innere Ohr holt. Damit ist auch eine zusätzliche formale Eigenart des Romans genannt, denn an etlichen Stellen gewinnt der Text durch die Hervorhebung und Einrückung einzelner Zitate, Figurenaussagen und Beobachtungen fast lyrische Qualität – Kieser hat in den letzten 14 Monaten nicht nur zwei Romane publiziert, sondern mit manchmal ist es eine tragische liebe (hochroth München, 2023) und vom geschmack auf der kellertreppe (keiper lyrik 30, 2024) auch zwei Lyrikbände herausgebracht. Es ergibt sich eine weitere Ebene, die, vielleicht auch als Kommentar lesbar, parallel zur Handlung verläuft. Miniaturen, die auch isoliert für sich stehen und aneinandergereiht fast so etwas wie ein Langgedicht ergeben könnten. So entsteht eine Poetizität, die, wenn punktuell auch ein wenig forciert, oft von einer bestechenden Klarheit ist. Etwa aus dem ersten Drittel herausgepickt:

NORDSTDT
[…]
INSHALLAH
[…]
DIE MACHEN GARANTIERT
KOPFSCHMERZEN
[…]
DONT’T CHA
(S. 86-92)

Neben all dem ist der Roman vor allem das bestechende Porträt einer Teenager-Freundschaft, das nie Gefahr läuft, in der Aneignung der jugendlichen Perspektive ins Peinliche zu rutschen. Kieser erzählt stets glaubhaft vom Leben dieser knapp 14-Jährigen, von jugendlicher Anarchie, von ersten Drogenerfahrungen, Mutproben, sich entfaltender (auch queerer) Sexualität, von unzähligen gerauchten Zigaretten – ja, auch der Titel verweist nicht unbedingt auf Halluzinationen, sondern auf eine Mitte 2000 beliebte Zigarettenmarke mit Vanillegeschmack – und von einem Lebensgefühl zwischen übersprühender Hoffnung und desillusioniertem Fatalismus. Er erzählt von der Pubertät und rutscht dabei nie ins Klischeehafte, weil der Text diese Figuren, diesen Lebensabschnitt ernst nimmt, als Phase, in der bisherige Selbstverständlichkeiten sukzessive zu bröckeln beginnen. Die banale aber gleichzeitig tiefgreifende Erkenntnis, ein gänzlich anderes Leben zu führen wie Tarek und Ali, wird für Vince dabei zum Schlüsselerlebnis – „WENN AUSSAGE GEGEN AUSSAGE STEHT / GLAUBT MAN UNS“.

Folglich wird von unterschiedlichsten, immer wieder kontrastierenden Selbstverständlichkeiten der verschiedenen Figuren erzählt: von der Selbstverständlichkeit, als Kind vorgelesen zu bekommen – Jim Knopf vorgelesen zu bekommen; oder von der Selbstverständlichkeit, zwei Jobs haben zu müssen, um finanziell durchzukommen; davon, jedes Jahr in die Toskana auf Urlaub zu fahren; oder davon, nicht mehr auf Urlaub fahren zu können, weil der Vater politisch verfolgt wird; von der Selbstverständlichkeit, einen deutschen Pass zu besitzen und der Selbstverständlichkeit, überhaupt einen Pass zu besitzen. Nicht immer werden Vinces Privilegien und die strukturelle Benachteiligung von Tarek und Ali so deutlich gegeneinandergestellt – dem Text geht es nicht um Vergleiche, sondern darum, diesen Lebensrealitäten gerecht zu werden. Und punktuell gerät die gemeinsam erlebte Pubertät dieser Figuren auch zu einem Möglichkeitsraum, in dem etliche der genannten Selbstverständlichkeiten zumindest für den gemeinsamen Moment aufgelöst werden.

In einer dem Roman angehängten Danksagung hinterfragt Kieser noch einmal die eigene Position, den „weißen Blick“ auf diese Thematik und diesen Text und verweist im Anschluss auf die Notwendigkeit, dafür im Gespräch mit anderen eine geeignete Form zu finden. Es solle weniger darum gehen, „ob man etwas schreiben soll“, sondern darum, „wie man es schreiben kann.“ Kieser hat die passende Form gefunden, diese Geschichte zu erzählen – nicht, weil sich über alle konkurrierenden Selbstverständlichkeiten hinweg ein Raum für Verständnis zwischen den drei Freunden auftut (auch wenn das im Roman durchaus der Fall ist), sondern weil der Text dem Erzählen vertraut, nicht als Mittel, vorgefertigte politische Meinungen in das schillernde Gewand einer geschlossenen Narration zu kleiden, sondern als probate Praxis der Komplexitätsschilderung.

Von dieser Qualität des Erzählens zeugt dieser Text und auch davon, dass man als Anfang bis Mitte 30-Jährige:r (also auch der Rezensent) bereits jetzt eine ausgeprägte Nostalgie für die nuller Jahre empfinden kann.

 

David Wimmer-Wallbrecher, geb 1993 in Tamsweg. Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Graz und Bristol. Abschluss 2019 mit einer Master-Arbeit zu Gerhard Roth. Wiss. Mitarbeiter am Franz-Nabl-Institut in Graz. Arbeitet an einer Dissertation zum Werk von Clemens J. Setz. Kulturschaffender in unterschiedlichen Konstellationen (Film, Literatur, Theater). Mitglied des Autor:innenkollektivs plattform. Letzte Publikationen: Glitches, Bots und Strahlenkatzen. Gegenwart bei Clemens Setz. (Hg. mit Klaus Kastberger, Sonderzahl 2022)

Luca Kieser Pink Elephant
Roman.
München: Blessing, 2024.
304 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-89667-760-0.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor sowie einer Leseprobe

Homepage von Luca Kieser

Rezension vom 22.10.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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