#Lyrik

vom Geschmack auf der Kellertreppe

Luca Kieser

// Rezension von Alexander Peer

Luca Kiesers zweiter Lyrik-Band vom Geschmack auf der Kellertreppe – nach seinem Debüt manchmal ist eine tragische Liebe (Hochroth, 2023) – erzählt von einer Initiation. Anschaulich und körperlich fast beklemmend entdeckt ein Mensch seine Fähigkeit etwas auszudrücken. Gleichzeitig untersucht dieses Langgedicht, wie die Erinnerung zu einer sprachlichen Form findet, sich dazu erst ins Sprechen hineinarbeiten muss. Dabei bleibt die eigene Wahrnehmung verdächtig, immer wieder überlappen sich Fragmente von Eigen- und Fremdwahrnehmung.

Sofort fällt einem die Gestaltung mit zwei Ebenen auf. Zum einen der gesprochene Text, ein Monolog, der sich schon in der ersten Zeile an das Gegenüber richtet. Höflich distanziert werden Leserin und Leser mit „Sie“ angesprochen. Somit lässt einen die Machart an ein Schauspiel denken. Zum anderen verstärken kursiv eingeschobene Regieanweisungen eine zusätzliche Dramatisierung. Das alles betont den performativen Charakter des Textes, zumal die Sätze mitunter stakkatoartig vorpreschen.
Sieben Kapitel bilden das Ganze. Wer möchte, kann darin eine Symbolik erkennen. Drei dieser Kapitel sind lediglich mit einer Zahl versehen und die vier anderen tragen Titel wie „der Fisch“, „da“, „und Hand in Hand“ sowie „das Loch“. Das zentrale Motiv ist die Zunge und ihr natürlicher Lebensraum, der Mund.

Performativer Akt

Welcher Gegensatz zu jener tänzerisch-feurigen Zunge, die im ersten Teil von Vladimir Nabokovs Lolita zu einem grazilen Dreisprung ansetzt! Buchstäblich heißt es dort, „die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.“
Kiesers Zungenstudie hingegen liegt ein ausdauernder Kampf zugrunde. Die Zunge scheint sich in ihrem Umfeld erst zurechtfinden zu müssen. Sie erkundet ihre eigene Wurzel, sie möchte aus dem Mund heraus und spitzt sich in die Welt hinein. Hier arbeitet sich jemand körperlich daran ab, zur Sprache zu kommen.
Man mag an Samuel Becketts Einpersonenstück Not I von 1972 denken, in welchem – mit grellem Lichtkegel in den Fokus gerückt, während die restliche Bühne vollkommen dunkel ist – ein Mund auf einer Bühne spricht. Diese Stimme rasselt ihre Biografie herunter und verausgabt sich. Sie erzählt von der tristen Gegenwart erschöpfter Betagtheit. Sie erinnert sich tapfer und kämpft sich vor bis in die Jugend, um Schritt für Schritt verpasste Chancen und Niederlagen kundzutun.

Bei Kieser ist die Route umgekehrt, die Verankerung im absurden Theater jedoch durchaus zulässig. Dieser lyrische Erzähler versucht, sich in die kindliche Welt zurückzuarbeiten und setzt am Beginn der Mitteilungskraft an. Am Anfang war der Laut. Zurück in einer sprachlosen Kindheit, in welcher die anderen Menschen unfassbar bleiben und ihnen keine Beurteilungen unterstellt werden können.

Auch die Formen der Wirklichkeit sind einfach beschrieben: So wird beispielsweise ein nicht näher benannter Fisch erwähnt, ebenso Tisch, Stein u. v. m.. Wir erfahren nicht, ob es sich etwa um eine Forelle oder einen Saibling handelt. Weder räumliche noch sprachliche Nuancen entfalten sich so. Dieses ursprüngliche Reden orientiert sich demnach an der Kategorie und nicht am Konkreten. So schafft Kieser eine kindliche Welt der Wahrnehmung. Die Kellertreppe führt in zwei Bereiche, in das Dunkle, Bedrückende und empor ans Licht.
Es ändert sich etwas beim Wandel vom Sprechakt zum Schreibakt. Die Evolution ist allerdings ein erschöpfendes Geschäft. Inmitten persönlicher Erfolge lauert die Niederlage auf der Beziehungsebene, wie dieses Zitat aus dem Text zeigt:

bis ich eines Tages
ohne mit dem Stift abzusetzen
DASISTDASHAUSVOMNIKOLAUS
schrieb
in einer Linie
meine Freundin neben mir den Arm hob und
      abwechselnd solange schnippte und auf das Papier
auf dem Tisch vor mir
deutete bis es irgendwann aus ihr hausplatzte ich
      hätte
keinen Platz zwischen den Wörtern gelassen da
beugte ich mich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr
sie sei nun nicht mehr meine Freundin (S. 49)

Dieses hier ausgesprochene Alleinsein ist ein wiederkehrendes Motiv. Diese Passage speist sich immerhin durch den tragischen Witz. Bloß der Bruder ist im Text als ein anderer mehrfach präsent, doch da ihm kein Name gegeben wird, mutiert er zur Schablone. Erstaunlich wie die Leerstelle wächst, wenn jemandem kein Name gegeben ist. Noch schwieriger zu fassen ist eine ominöse Sie, vermutlich die Mutter oder Erziehungsberechtigte, die als anwesende Abwesende opak ist.

Nur einmal ist eine weibliche Person fassbarer, weil ihr Alter genannt wird. Die 89-Jährige – mutmaßlich die Großmutter – tritt in die Erinnerung. Doch die Erinnerung scheint zunächst unentschieden zu sein, ob sie einen Sturz der Großmutter gespeichert hat oder den Unfall des Erzählers, dem mit einer Pinzette die Steinchen aus dem verletzten Körper gezogen werden.

Dieser Gegensatz zwischen einer detaillierten, meist körperlichen Erinnerung und einem Mangel an Verortung und Zuordnung ist das Charakteristische dieses Bands. Nur ganz zum Schluss scheinen die zuvor in den Erinnerungssentenzen beschworenen Plätze der Kindheit im Laufschritt bewältigt zu werden, bis der Erzähler ein Gewehr packt, in die Küche geht und der Frau, die einen Fisch zubereitet, entgegentritt.
Unheimlich ist dieses Ende und offener kann ein Buch kaum enden. Schließlich ist ein Bindewort an diesen Schluss gestellt, das Wort „und“. Unweigerlich wartet man hier auf eine Verknüpfung, die jedoch ausbleibt.

Irritation des Satzgefüges

Bei einigen Passagen trennt der Zeilensprung das Subjekt vom Prädikat. Steht das Verb aber unverbunden da, dann hängt auch das Subjekt tatenlos in der Luft. Es entsteht eine kleine Zäsur, ein Stocken. Dieses Detail verstärkt die unrunde Rede. Hier ist einer nicht im Sprachfluss und damit nicht im Erinnerungsfluss. Das Tätigkeitswort hat im Satz die Funktion der Bewegung, sabotiert man die Bewegung, dann rückt auch die Struktur der Sprache selbst in den Vordergrund wie diese Stelle demonstriert: „hinein / zwischen die weißen Steine / manche davon größer als ich / war gibt es da und Gräser /wuchsen mir bis über die Schultern ich / schlich darin umher lauerte eine Zeit lang / lebte eine Schlange hier ihr Nest hatte sie / irgendwo / im Schilf und durchs Schilf sah ich“ (S. 17)

Im weiteren Verlauf findet das lyrische Ich zur Schrift. Diese Schritte hin zur Bewältigung der Schriftsprache gehen ebenfalls mit körperlichen Verrenkungen einher wie schon bei den verbalen Mitteilungen. Gleichzeitig liefert der Band so viel an räumlicher Information, dass sich Natur und Umgebung imaginieren lassen: Garten, See, Wald, Radwege, Haus und Keller. Die Kindheit ist deutlich gemacht, etwa durch das Motiv der Zahnfee. Das ist fein eingearbeitet in eine Beobachtung über einen Tierknochen, in welchem „7, 8, 9“ Zähne stecken.
Die hier zitierte Dreiheit der Zahlen ist eine Privatmythologie. Mehrfach versucht das lyrische Ich seine Erinnerung mit Zahlen dingfest zu machen. Immer sind es drei, nicht immer ergeben sie eine schlüssige Reihe wie beim erwähnten Beispiel, oft liegen sie weit auseinander, sei es bei Zählen der Ameisen oder den Ringen der Bäume.

Das Buch ist in der von Helwig Brunner herausgegebenen keiper-lyrik-Reihe erschienen und untersucht spezifische Phänomene des Kindseins. Manchmal erstarrt dieser Text in selbstbezüglicher Wahrnehmung, als gäbe es kein außen. Das Hermetische dieser Literatur erfordert präzises Lesen. Dass manche Fährte nur skizziert und dann nicht weiter verfolgt wird, gehört zum Fragmentarischen des Erinnerns und stört nicht. Die Atomisierung der Erinnerung jedoch wird so verstärkt.

 

Alexander Peer, geb. 1971 in Salzburg, Studien in Germanistik, Philosophie und Publizistik. Peer lebt heute als freier Autor in Wien. Zahlreiche Beiträge zu Literatur, Philosophie und Architektur. Bücher (Auswahl): 111 Orte im Pinzgau, die man gesehen haben muss (Emons Verlag, 2022), Gin zu Ende, achtzehn Uhr, Der Klang der stummen Verhältnisse, Bis dass der Tod uns meidet sowie Land unter ihnen (alle Limbus Verlag) sowie Ostseeatem (Wieser Verlag 2008).www.peerfact.at

 

Luca Kieser vom Geschmack auf der Kellertreppe
keiper lyrik: 30.
Graz: edition keiper, 2024.
74 Seiten, Softcover.
ISBN 13: 978-3-903575-16-5.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor sowie einer Leseprobe

Homepage von Luca Kieser

 

 

Rezension vom 06.05.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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