#Roman

Koryphäen

Gudrun Büchler

// Rezension von Sabine Schuster

„Jener Körper, der einst auf Marin Sostakov getauft worden war, lag nun neben ihm. Von dem Herz, das vor wenigen Minuten noch seines gewesen war, trennte ihn nur Haut. Die ihn von dem Wissen ferngehalten hatte, wusste er nun, das hier draußen frei zugänglich war. Frei wie jede Form von Energie.“ (S. 5)

Der erste Satz von Gudrun Büchlers Science-Fiction-Krimi Koryphäen klingt nach einer Zombie-Geschichte, doch dann wird sofort klar, dass die Autorin nicht von (un)toten Körpern erzählt. Viel mehr geht es in diesem Text um das menschliche Bewusstsein, das erst durch die Loslösung vom Körper vollkommene Freiheit erlangt. Der Wissenschafter Marin Sostakov hat sich, so scheint es, zu diesem Zweck selbst aus seinem Bürofenster hinunter in den Garten der Universität gestürzt. Doch er ist nicht allein, oben am offenen Fenster steht jemand, der Sostakovs Körper fotografiert, den Campus scannt, die Daten seiner Festplatte überspielt und schließlich sein Handy zückt: „74B12, hört er den Mann sagen, der Stecker ist gezogen.“ (S.8)
Sostakov war kurz davor gewesen, seine Erkenntnisse über die im Raum vorhandene Energie mit anderen Forschern zu teilen. „Jeder sollte sie nutzen können, hatte er gedacht. Es ist soweit, egal, was passiert, Menschen können zwar getötet werden, aber kein Gedanke, der einmal gedacht worden ist.“ (S.6)
Sein Tod, so erfahren wir bald, geht auf das Konto einer globalen Organisation, die im Lauf der Handlung zwar aus verschiedenen Perspektiven, aber immer nur vage sichtbar wird.
Auch andere Figuren in Gudrun Büchlers Roman sind bereits tot, sie befinden sich aber trotzdem in regem Austausch mit Hausman, bei dem alle Fäden der Geschichte zusammenlaufen. Der ehemalige Wissenschafter Hausman lebt (noch), er versteckt sich als Aussteiger getarnt auf einer Insel im Indischen Ozean und wohnt am Rande eines exklusiven Ferien-Resorts mit mehreren Honeymoon-Bungalows. Beschützt wird er von einem verkabelten Gummibaum, der ihm jede Bedrohung von außen anzeigt. Im Wachzustand ist Hausman ein einsamer älterer Mann, der zu viel Gin trinkt und sich morgens beim Laufen am Strand fit hält. Im Schlaf jedoch verlässt er seinen Körper und verbindet sein Bewusstsein mit einem weltweiten telepathischen Netz. Seine Tochter Judith in London gehört ebenso dazu wie der bereits bekannte Marin Sostakov und ein gewisser Stepan Loski, der sich später als Hausmans Vater entpuppt, er war ebenfalls Wissenschafter und wurde ermordet. Zwischendurch klinkt sich auch der Papst, der nach einem Attentat im Koma liegt, in die illustre Gesprächsrunde ein. Später kommt Curt dazu, der Leiter einer gigantischen EDV-Plattform im Atlantik, der auf einsamen nächtlichen Tauchgängen seine physischen und psychischen Grenzen auslotet. Sein Unternehmen sammelt genetische Informationen, um Algorithmen für die Optimierung menschlicher Ressourcen zu schreiben. 80 Prozent der Menschheit sind bereits digital codiert, abseits des Datenschutzes und finanziert von Lobbyisten, Geheimdiensten und anderen Interessenverbänden, die bei Curt Datenabfragen in Auftrag geben. Als Hausman auf seinen körperlosen nächtlichen Streifzügen in das Bewusstsein von Curt eindringt, werden dessen sensorische Fähigkeiten geweckt und beide bekommen zu spüren, dass sie mit ihrer subversiven Art der Kommunikation die Interessen des globalen Datennetzwerks empfindlich stören.

Die Mödlinger Autorin Gudrun Büchler hat nach ihrem Romandebut Unter dem Apfelbaum (Septime, 2014), das die Lebensgeschichten von vier Frauengenerationen über ein Jahrhundert erzählt, einen radikalen Themen- und Genrewechsel vollzogen: Sie serviert uns einen utopischen Krimi, der in sehr naher Zukunft in einem (immer noch) männerdominierten Wissenschaftsmilieu spielt, in einer fast lückenlos vernetzten Welt, in der unsere aktuelle Digitalisierung mit all ihren Schattenseiten zur Perfektion gebracht wurde. ‚Freigeister‘ wie Hausmann und Curt mit ihrem erweiterten Bewusstein unterlaufen dieses System und lassen jeden Datenserver plötzlich alt aussehen: „Telapathie ersetzt die digitale Kommunikation, lautet die Nachricht.“ (S.170)

Gudrun Büchler gelingt es durch wechselnde Erzählperspektiven und durch ihre klare, aber atmosphärische Sprache von der ersten Seite an, das Interesse an ihren Charakteren zu wecken. Nichts ist hier trockene Wissenschaft – Menschen, Bewusseinsströme und Umgebungen werden jeweils sofort lebendig, man fühlt und atmet mit diesen teils flüchtigen Figuren, völlig unabhängig davon, auf welche Weise sie miteinander kommunizieren. Hausman etwa muss sich während seiner Wachphasen auf der Paradies-Insel auch mit realen Menschen auseinandersetzen. Auf seiner Joggingrunde heftet sich ein junger Amerikaner an seine Fersen, und bald darauf wird seine Freundschaft mit einer jungen Muslima, die für das Ferienresort arbeitet, zum Problem. Hausman wirkt oberflächlich betrachtet wie die Neuadaption eines Hippies, seine telepathischen Reisen haben jedoch ein Ziel, dem er nur quälend langsam näherkommt: Er sucht den Mörder seines Vaters und – hier nimmt die Handlung am Ende ordentlich Fahrt auf – wird dabei selbst zum Gejagten.
Auch der skrupellose Workaholic Curt ist nicht so glatt angelegt wie es scheint: Er lebt auf der Plattform mit seinen Pflegeeltern und einem Teddybären, in den der Rock seiner Mutter eingenäht ist. Er hat sie als Kind in einem Tsunami verloren und sucht in geheimen Rohdaten der Firma nach ihrem genetischen Code.
Die titelgebenden ‚Koryphäen‘ dieses Romans werden bei all ihrer Genialität von kindlichen Schlüsselerlebnissen gesteuert, die sie daran hindern, ihr Leben endlich in die Hand zu nehmen und ihre besonderen Fähigkeiten selbstbestimmt zu nutzen. „Rette dich selbst und dann die Welt!“, scheint ihr Auftrag zu lauten. Ob ihnen das eine oder das andere gelingt, sei hier nicht verraten, die Autorin versteht es nämlich sehr geschickt, die Spannung bis zum Ende zu halten. Ein absolut lesenswerter Roman!

Gudrun Büchler Koryphäen
Roman.
Wien: Septime, 2017.
184 S.;geb.
ISBN 978-3-902711-60-1.

Rezension vom 18.04.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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