In diesem Sinne hat Gudrun Büchler mit ihrem Debütroman Unter dem Apfelbaum einen inversen modernen Heimatroman geschrieben. Sie erzählt darin eine mehr als ein Jahrhundert umspannende Familiengeschichte. Vier Frauenschicksale, vier Generationen versammelt sie in dem gerade mal 200 Seiten umfassenden Band: Magda die Urgroßmutter, knapp vor der Jahrhundertwende des letzten Jahrhunderts geboren, wird im Alter von zehn Jahren zu einer reichen Bauernfamilie geschickt, um gegen Kost und Logis als günstige Arbeitskraft zu dienen. Sie wird die Geburt ihres zweiten Kindes Mathilda nicht überleben. In der Zwischenkriegszeit wird Mathilda vom Vater auf eine Landwirtschaftsschule verschickt. Sie bekommt als Mädchen die Härten der Ausbildung schmerzhaft zu spüren. „Das wirst du lernen müssen“, sagte Lehrer Gentz. „Blutscheu hat hier noch keiner absolviert. Und arbeitsscheu erst recht nicht.“ Doch die Härten des Lebens brechen Mathilda nicht. Zu einem der stärksten Momente des Buches zählt Mathildas symbolischer Versuch eines Befreiungsschlags: Als sie wieder einmal beim Schlachten von ihren Mitschülern gequält wird, befreit sie sich, indem sie sich mit dem Schlachtermesser ihren langen Zopf abschneidet – das ist mitunter eine der eindringlichsten Passagen des Textes. Mathilda wird eine Familie gründen und ein Landgut bewirtschaften. Um ihre Tochter Marlies vor den Wirren des Zweiten Weltkrieges zu schützen, wird auch sie ihr Kind wegschicken. Doch beide werden die Kriegszeit nicht unbeschadet überstehen. Missbrauch wird nicht bloß angedeutet.
Marlies schließlich wird zwei Töchter haben: Johanna und Milla. Milla kommt stumm zur Welt und wird in den frühen 1970er Jahren fern von zu Hause in einer Sonderschule, die sich auf einem Bauernhof befindet, untergebracht. Die dort zu dieser Zeit immer noch vorherrschende schwarze Pädagogik lässt das Mädchen in eine Welt des magischen Denkens flüchten. „Sie selbst war es, träumte Milla, die nun in einem Tropfen schwebte, von einer Blase umhüllt. Ein mittelgroßer Fisch mit zwei Augen, die ins trübe Wasser blickten und mit zwei Beinen und Armen, und in einer Hand hielt er ein geflochtenes Seil, eine gewundene Schnur, die irgendwo mit einer Welt jenseits dieser Schlieren verbunden war.“
Unter dem Apfelbaum erzählt von Entwurzelung, Heimatverlust und generationenübergreifenden Traumatisierungen. Der Apfelbaum wird dabei zum sinnbildlichen Ort dieser uneingelösten Kindheiten.
Aus unterschiedlichen Gründen werden alle vier Frauen den Orten ihrer Kindheit viel zu früh entrissen oder entfremdet. In Rückblenden zeigt die Autorin entscheidende Momente dieses Heimatverlusts und vor allem dieser frühen Kindheitsverluste. Geschickt montiert sie dabei die unterschiedlichen Lebensgeschichten und versucht jeder Frau eine ihr entsprechende Stimme zu verleihen.
Denn so unterschiedlich sie auf diesen vorzeitigen Kindheitsverlust reagieren und angesichts der Zeit, in der sie heranwachsen, es auch können, so unterschiedlich sind auch ihre Erinnerungen daran und die Worte, die sie dafür finden. Oft verlaufen sich die traumatisierenden und prägenden Erlebnisse in Andeutungen und Ahnungen oder werden erst in den Lebensläufen der folgenden Generation deutlich bzw. sichtbar. Gudrun Büchler ringt dabei deutlich um eine entsprechende Form, diese beeindruckenden Lebensgeschichten zu bannen. Starke und drastische Bilder stehen der oftmaligen Sprachlosigkeit gegenüber: Wo Worte nicht mehr hinreichen.
Alleine schon Mathildas Geschichte, die ein wenig an die Lebensgeschichte der Bäuerin Anna Wimschneider in „Herbstmilch“ erinnert, würde als Stoff eines Buches ausreichen. Gudrun Büchler hat auf jeden Fall viel zu erzählen und zu wünschen ist ihr, dass die Sprache dabei auch immer mitkommt.