#Roman

Einzeller

Gertraud Klemm

// Rezension von Sabine Schuster

Wem gehört der Feminismus?

„Solange wir uns wie Einzeller gebärden, wird das nie etwas mit der Geschlechtergerechtigkeit.“ Diese saloppe Formulierung erklärt nicht nur vorab den Romantitel, den die Autorin, Biologin und engagierte Feministin Gertraud Klemm nach Hippocampus (2019) wieder der Natur entlehnt hat, sie führt uns auch gleich mittenhinein ins Thema ihres mittlerweile sechsten Romans: Wem gehört der Feminismus? Warum funktioniert er nicht? Gibt es Frauensolidarität? „Feministinnen sind streng, besonders mit anderen Frauen“, meinte die Autorin kürzlich im Rahmen einer Festrede augenzwinkernd und doch ernst. Dass Feminismus auch bunt sein kann und Spaß machen darf, beweist sie seit Jahren mit einem ganz eigenen Schreibstil, der schonungslos und bissig, aber ebenso temperament- und humorvoll ist.

All das charakterisiert auch die feministische Wohngemeinschaft mit fünf Frauen aus verschiedenen Generationen und entsprechend verschiedenen Ansichten, die im Mittelpunkt von Einzeller steht. Was sie eint, ist ihr Widerstand gegen den drohenden Rechtsruck. Wahlen stehen an, und diesmal werden Herdprämien, Müttergeld und Abtreibungsverbote versprochen. In einem Reality-TV-Format diskutiert die Gruppe öffentlich ihre Positionen und während sie einander vor laufender Kamera zerfleischen, nimmt die politische Wende ungestört ihren Lauf. „Das Patriarchat ist die Schwerkraft“, lautet ein weiterer Satz der Autorin, es läuft ruhig auf Schiene und schließt alle Frauen generös mit ein, während diese einzeln um ihre Position im Leben ringen, irgendwo zwischen der Dauerschleife des „stinknormalem Alltagsfeminismus“ und der vierten Welle der Frauenbewegung mit ihren jungen, woken Queer- und Sternchenfeministinnen.

„Werde Teil der Frauenrevolution. Mitbewohnerin für nachhaltiges Wohnexperiment Bienenstock gesucht. 300 Euro warm. Keine Tiere, keine Männer, nicht barrierefrei. Bewerbungen unter fabdahmily@bienenstock.oqg0hat“ (12), lautet das Inserat, mit dem die politische Aktivistin Simone und ihre langjährigen Gefährtinnen Eleonora und Maren zwei weitere Mitbewohnerinnen für ihre neue WG suchen. Das alte Schulgebäude, in dem zwischendurch ein Startup untergebracht war, ist baufällig und kalt, aber es gibt genug Platz und das Budget der drei Freundinnen ist knapp bemessen. Die Juristin Flora und die Studentin Lilly werden aus dreißig Bewerberinnen ausgewählt, allerdings nicht ganz demokratisch. Eleonora und Maren verstehen nicht, warum Simone für Flora plädiert, sie sei humorlos, irgendwie linkisch, nur bei Lilly sind sich alle einig. Sie ist sympathisch, neugierig und deutlich jünger als sie.

Lilly und Simone sind auch die beiden Erzählerinnen dieses Romans, ihre Perspektiven wechseln kapitelweise – die charismatische, aber strenge Chefin der Gruppe und das hübsche Küken, mit dem die WG sich selbst und ihren Feminismus verjüngen will. Ironischerweise zieht gerade mit der jungen Lilly, die sich von ihrer Familie und ihrem Freund Samu emanzipieren und ein Abenteuer erleben will, ein Hauch jener Bürgerlichkeit in die revolutionäre Zelle ein, die in Klemms Roman Aberland (2015) teilweise als unzeitgemäß kritisiert wurde. Nun lässt die Autorin genussvoll beide Welten aufeinanderprallen.
Lilly kommt allein wegen Simone Hebenstreit, die das diffuse Unbehagen, das sie seit einem Jahr spürt, in knappe Worte fasst. „Seit sie mit Samus Schwester Nato in einen Diskussionsabend zum Thema Beziehungen. Das Politische im Privaten geraten und Lilly der Mund offen gestanden ist, als sie Simone dort zum ersten Mal gesehen hat. Wie sie die politische Funktion der Kleinfamilie zerlegt hat, von Beginen und Matriclans in Asien, Mexiko und Afrika erzählt hat. (…) Lilly hatte ja keine Ahnung. Es soll nicht umsonst gewesen sein, dass sie ihren schweren Zirben-Vollholzbettrahmen drei Stockwerke hinaufgeschleppt haben, zu dritt, Eleonora, Flora und sie.“ (59)

Lillys Bewunderung für Simone ist nachvollziehbar, auch ihre naive Neugier auf die geplante Fernsehsendung, sozusagen die Draufgabe. Doch die erfahrene Aktivistin Simone sollte es besser wissen, als ihre alte Bekannte aus dem staatlichen Rundfunk, „die Halbritter“, ihre WG für das TV-Format Big Sista anwirbt. Ein anspruchsvoller, niveauvoll eingedampfter Spin-Off von Big Brother solle die Sendung sein, gepflegte Unterhaltung mit feministischem Grundtenor.
„Sie hätten es in der Hand, wie die Gespräche verlaufen würden: untereinander, und mit diesen Gästen.“ So Simones Stimme, die den Roman von Anfang an prägt. Ein latent aufgebrachter Ton, durchsetzt von furiosen inneren Monologen: „Gästinnen, wie sie dieses Wort hasste. Wie sie diese Sprachpolitik nervte. Dieses woke Erbsenzählen. Jeder Text ein Minenfeld, an jeder Ecke die neuen Moralistinnen, die einem an den Lippen hingen und jedem falschen Wort auflauerten und Aussagen auf Mikroaggressionen prüften. Die einem bis in die Kindestage nachrecherchierten, ob eh immer alles politisch korrekt gewesen war. Ob man eh immer schon gegendert und nie Zigeunerschnitzel bestellt hat. Aber wenn sie es mit Humor angehen, können sie sich ja auch mit der Konkurrenz verbünden. Gemeinsam subversiv diese Unterhaltungsarchitektur unterlaufen. Lieber ein niveauloser, voyeuristischer Feminismus als gar keiner.“ (34)

Simone verrechnet sich in jeder Hinsicht: beim „Bürschchen“ mit Tolle und Rüschenhemd, das die Sendung moderiert, bei den eingeladenen Gästinnen, die mit Simones praktischem, (ab)gestandenem Alltagsfeminsimus nichts am Hut haben. Care-Arbeit, Pay-Gap, Altersarmut und Schwangerschaftsabbruch taugen nicht für eine Show, dafür die ewigen Reizthemen Kopftuch, Gender, Body Positivity, Transrechte, Sexarbeit. Der Zickenkrieg ist garantiert und der Vertrag lässt keinen Fluchtweg offen. Noch perfider als die Themenwahl sind die Bilder, die es auf den Bildschirm schaffen, am prominentesten Lillys stattlicher Busen, als diese im weit ausgeschnittenen T-Shirt ohne BH in die Aufzeichnung hineinplatzt, weil sie den Termin falsch notiert hat. Parallel zu den Politiker*innen draußen im Wahlkampf diskutieren die Frauen auf Sendung an den wichtigen Themen vorbei und ihre fremdgesteuerten ideologischen Scharmützel wirken künstlich bis lächerlich angesichts der gähnenden Kluft, die ihre Lebensrealität von ihrem politischen Anspruch trennt. Allein, dass fünf intelligente, gebildete, unabhängige Frauen zusammen in einer kaum beheizbaren „Bruchbude“ leben und sich über Gendersternchen, Veganismus und den Hasen in Marens Zimmer streiten, ist ein einziger Abgesang auf den Feminismus. Eigentlich zum Weinen, und doch kann man als Leser*in immer wieder laut lachen über den Sprachwitz, mit dem die Autorin dem Thema zu Leibe rückt, ohne ihr Anliegen grundsätzlich zu verraten. Dieser Text könnte zweifellos, wie zuletzt Klemms Romane Aberland und Hippocampus, auch als Theaterstück oder Sitcom reüssieren.

Etwa wenn Lilly über die Frauen in der WG nachdenkt: „Unser Küken, sagt Maren zu ihr. Damit kann sie leben. Was aber erwarten die anderen sich von ihr? Flora etwa erwartet sich von allen mindestens das Beste. So ist Flora. Und Lilly ist eben nicht so, weil sie ein Leben hat, das Männer inkludiert. So einfach ist das nicht, feministisch zu sein, wenn Männer im Spiel sind. Flora ist eine sexpositive Lesbe, und sie ist Scheidungsanwältin, eine von der hartgesottenen Sorte. Die muss sich nicht mit Männern arrangieren. Ganz im Gegenteil. Sie ist eine von denen, die Frauen zu den ihnen zustehenden Obsorgerechten und zu finanzieller Sicherheit verhilft. Eine, die unschuldigen Männern ihre Kinder wegnimmt und gleichzeitig überzogene Unterhaltszahlungen aus ihnen herauspresst, würde Papa sagen. Bei Simone und Eleonora weiß sie gar nicht, was da läuft. Irgendetwas sicher. Etwas Sexuelles oder Platonisches vielleicht, oder auch nur eine Hund-Herrl-Beziehung. Korrektur: Eine Hund-Frauerl-Beziehung. Nur bei Maren glaubt Lilly zu wissen, was da läuft: nichts mit Männern und Frauen jedenfallIn Wirklichkeit mag Lilly Maren am liebsten. Die ist normal, berechenbar, nicht übermäßig politisch engagiert und lässt sich eben nicht alles verbieten. Das imponiert ihr auch.“ (112)

Lillys oberstes Ziel ist, nicht wie ihre Mutter zu werden, und sie wagt viel dafür. Doch bald ist ihr alles zu anstrengend. Sie wollte mit inspirierten Frauen wohnen. Und sich nicht in einen Krieg einmischen, der sie nichts angeht. Simone erhält Hassbotschaften und sogar Morddrohungen, Eleonora schickt die Screenshots der Polizei und die „Mappe der verletzten Männlichkeit“ wächst erschreckend schnell. Je mehr die Wohngemeinschaft zu einer Art Festung wird, umso mehr drängt das ganz banale biologische Leben zur Tür herein, erst noch harmlos in Gestalt des Hasen, den Maren heimlich in ihrem Zimmer hält, weil sie etwas zum Liebhaben braucht. Dann in Gestalt der Männer, die zumindest im Leben von Simone und Lilly eine Rolle spielen. Simones Jugendfreund und Gelegenheits-Liebhaber etwa, der Sohn des Milchbarons aus ihrem Heimatdorf, dessen Kind sie einst abgetrieben hat. Er ist ausgerechnet Finanzminister geworden, natürlich als Mitglied der konservativen Partei. Lilly beobachtet ein heimliches Treffen der Beiden und wittert sofort den Verrat: Die Revolte im Bett mit der Macht! Ein schöner literarischer Schachzug ist, dass wir Leser*innen, während Lilly außen vor bleibt, Simone ins Appartement des Ministers folgen und endlich einen Blick hinter die allzu toughe Fassade dieser Vorzeigefrau werfen dürfen.

Lilly ihrerseits beginnt, während ihr Freund Samu ein Praktikum als Sozialarbeiter in einer Strafanstalt macht, eine Affäre mit dessen Mitbewohner Aaron, einem jungen Unternehmensberater. Mit nachhaltigen Folgen, die ihr bald keine Luft mehr lassen für soziale Experimente. Statt dem Schwangerschaftsabbruch, den Simone ihr nahelegt, wählt sie den verpönten Weg in die Kleinfamilie. „Dass sie wegen der feministischen Ideale überhaupt erst die Pille abgesetzt hat, kann sie mit niemandem besprechen. Dass der Feminismus sie in diese Situation gebracht (…), sie belehrt hat, dass die Pille pfui ist, eine patriarchale, pharmakologische Knechtung. Da hat der Feminismus die Rechnung ohne die Geilheit gemacht.“ (240)

Gertraud Klemms Roman, der wie eine Versuchsanordnung beginnt, ist in Summe voller Leben und überrascht bis zum Schluss mit neuen Aspekten und unerwarteten Wendungen. So manches Statement ihrer temperamentvollen Figuren spricht zweifellos vielen Leser*innen aus der Seele, etwa wenn Simone gegen die „Sternchenfeministinnen“ wettert, die den Dikurs, die Foren, die Frauenzeitungen kapern, sodass diese sich lesen, „als seien alle Menschen genderfluid und im Nebenerwerb Sexarbeiter*innen“. (201) Mitunter erinnert die verwirrende Debatte mit ihren Abkürzungen und Kampfbegriffen an die babylonische Sprachverwirrung. Da wie dort wäre es nötig, mit einer Stimme zu sprechen, denn „für eine ernstzunehmende feministische Bewegung brauchen wir jene 90 Prozent Frauen, die sich vom Feminismus abgewandt haben“, resümiert Gertraud Klemm im Inteviewpodcast Frauenstimmen.
Dem ist nichts hinzuzufügen außer einem Aufruf: Diesen Roman lesen und wach bleiben, es lohnt sich!

Gertraud Klemm Einzeller
Roman.
Wien: Kremayr & Scheriau, 2023.
312 S.; geb.
ISBN 978-3-218-01382-6.

 

Rezension vom 06.03.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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