#Roman

Hippocampus

Gertraud Klemm

// Rezension von Angelika Reitzer

„Meine Worte sind Schleim, sind Asche und Zement.“, schrieb die österreichische Autorin Brigitte Schwaiger in „Fallen lassen“, ihrem 2006 erschienen Buch über ihre Erfahrungen in der Psychiatrie, dem letzten zu ihren Lebzeiten: wütend und verzweifelt und berührend.

Schwaiger ist das direkte Vorbild für die soeben verstorbene Helene Schulze in Gertraud Klemms Hippocampus, und deren Freundin, die Aktivistin/Künstlerin und Feministin Elvira Katzenschlager hat sich in Schulzes „Zwergenhaus“ zurückgezogen, um den Nachlass zu ordnen. Klemm nennt Aktivistinnen, Autorinnen und Künstlerinnen wie etwa Renate Bertlmann und Erna Dittlbach im Anhang als Hinweisende und Teil ihrer Recherche, denn das Sichtbarmachen von Biografien und der offene Umgang mit Quellen oder auch Inspiration ist bedeutend, gerade wenn es um die Problematik geht, wie viele kunstschaffende Frauen immer noch übergangen werden.
Wie Schwaiger hatte Schulze sehr jung einen großen literarischen Erfolg, bekam in Streeruwitz‘ „Kaiserbad“ (eines von mehreren Zitaten, in dem Fall für Baden bei Wien) Kinder und wurde Hausfrau – was bald zur Falle für die junge Autorin geriet (Depressionen, Alkoholmissbrauch, die Vorstadt als Strafkolonie) –, bis sie schließlich in dem kleinen Haus in Hintermoos landete. Schulze schrieb zwar weiter, aber vom Literaturbetrieb gemieden. In den Nachrufen zählt man sie zur feministischen Avantgarde, aber Elvira weiß natürlich, was dieser Begriff zu Lebzeiten bedeutete: Gehasst werden, „Gegenwind und Einsamkeit“, eigentlich schon tot; Preise und Würdigungen bekam sie schon lange keine mehr dafür, dass sie sich literarisch „durch die taube Hornhaut der Gesellschaft durchgenagt hat“ (auch Schwaiger erhielt übrigens ab 1984 keine Auszeichnung mehr, obwohl sie bis zu ihrem Tod noch ein Dutzend Publikationen hervorbrachte; lediglich eine Hörspielfassung von „Wie kommt das Salz ins Meer“ wurde drei Jahre nach ihrem Tod prämiert).

Elvira ist wütend: Über Helenes Verzweiflung (sie hat sich dann auch wirklich totgesoffen), über die Schamlosigkeit und Heuchelei des Literaturbetriebs, aber auch Land- und Kleinstadtidyll bringen sie, die gar nicht so unbequem und nur halbwegs prekär schon lange wieder in Wien lebt, auf. Als unerwartet Helenes letzter Roman „Drohnenkönig“ auf der Longlist des Deutschen Buchpreises aufscheint, beschließt Elvira, auf einen Rachefeldzug für die ausgebliebene Würdigung Helenes zu gehen, und eine Art Requiem als Roadtrip beginnt. Vom Windelberg über den Ingeborg-Bachmann-Salat bis zur riesigen Vulva, die auf einem Kriegerdenkmal befestigt wird, sollen biblische zwölf Aktionen aufzeigen, korrigieren, wiedergutmachen – und „Gegenskulpturen“ (Klemm) dazu sein, was an biologistischen und patriarchalen Monumenten immer noch in unserer Gesellschaft herumsteht und Frauen nicht nur die Sicht, sondern auch den direkten Weg versperrt, unter genauerer Betrachtung des weiterhin männlich dominierten Literaturbetriebes (wenn man von Zahlen und Fakten ausgeht).
Elvira macht sich nicht allein auf die Reise, die sie von Klagenfurt und Salzburg schließlich über Venedig bis nach Neapel führt und auf der sie feministische Umgestaltungen offizieller Denkmäler vornimmt, durchaus mit krimineller Energie.
Der junge Aufnahme- oder Kameraassistent Adrian, digital Native und massiv in Geldnöten, begleitet sie. Der Trip wird abwechselnd aus seiner und Elviras Perspektive geschildert. Adrian ist so ungefähr in allem das genaue Gegenteil von Elvira, er ist aber nicht Korrektiv, sondern interessiertes, perspektivenverschobenes Narrativ für die Erzählungen der „Hexe“, die er sich allerdings so genau ansieht wie noch nie eine alte Frau. Aus den Auseinandersetzungen und Reibungen, dem Miteinander der Aktionen und der gegenseitigen Abhängigkeit entsteht zum Ende hin eine Nähe, die weder kitschig noch abgebrüht ist, sondern durchaus schlüssig zärtliche und energetisch/erotisch aufgeladene Momente hat. Elvira widerlegt nicht nur Adrian gegenüber, der halb so alt ist wie sie, dass ältere Frauen (sie ist um die sechzig) unsichtbar sein müssen, sie zeigt sich auch anderen zufälligen Bekanntschaften. Adrian ist zwar recht naiv, aber lernfähig (vielleicht sogar etwas zu sehr, aber gut), selbst ein prekärer Kulturarbeiter mit eitlem Künstlerfreund, der sich Monat für Monat um seine Miete sorgen muss und von den Frauen seines Interesses eher verschaukelt oder benutzt wird. Sein Zugang zum Alltag und wie mit ihm umgegangen wird, macht übrigens deutlich, wie differenziert Klemm ihre ProtagonistInnen darstellt und dadurch auch die Erzählung handhabt. Sie hat keine Angst vor Klischees oder Bekanntem, schont die Emanze nicht mehr als den Jüngling, löst nicht jeden Widerspruch auf. Die Scheinheiligkeit zu vieler Frauen und die immer wieder mangelnde Selbstermächtigung spart sie nicht aus.

Schulzes „Drohnenkönig“ ist ein Roman, der geschlechtermäßig alles umgedreht hat, erklärt eine Fernsehjournalistin Adrian. Hippocampus, lat. für Seepferdchen, ist das Zeichen, das Elvira bei jeder Aktion als Sprühgraffiti hinterlässt, weil es als eines der wenigen Tiere zeigt, dass auch Männchen in der Lage sind, die Jungen auszutragen, womit das herkömmliche Geschlechterverhältnis umgedreht wird. Der so bezeichnete Teil des menschlichen Gehirns ist konkret natürlich auch eine Anspielung auf das (fehlende) Langzeitgedächtnis, wenn es um die Frauenbewegung geht und um das Ungleichgewicht in der Wahrnehmung männlicher und weiblicher Kunst.
Elvira Katzenschlager denkt und wütet und agiert (die Agitation hat sie hinter sich gelassen) skrupellos, mit ihrer Spontikunst klagt sie zuerst den Literaturbetrieb und darüber hinaus die Gesellschaft selbst an. Adrian begleitet sie oft staunend, aber er registriert auch penibel, wenn ihre Aktionen überhaupt einer (kleinen) Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, nutzt dafür digitale Distributionswege, vermag im Laufe der Reisen unter die Oberflächen des Kulturbetriebs zu blicken.
Literatur wird mit Worten gemacht, natürlich. Schwaigers „
Schleim, Asche, Zement“ nimmt Getraud Klemm in diesem rasenden Roman auf, sie fügt Witz, bittere Schärfe, Spitzendeckchen, Fäkalien, Windeln, Perücken, Draht und Lack und eine Bachmann-Büste hinzu, arrangiert das alles zu Installationen, dokumentiert auf Video und Fotografien – und schafft momenthaft tatsächlich ein Gleichgewicht der Geschlechter, diese Balance ist eine vorübergehende, für die immer und immer wieder auf beiden Seiten schwere und leichte Gewichte verschoben werden müssen oder Romane verfasst wie Hippocampus.

Gertraud Klemm Hippocampus
Roman.

Wien: Kremayr & Scheriau, 2019.

384 S.; geb.

ISBN 978-3-218-01177-8.

Rezension vom 03.10.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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