#Roman

Die Zeitforscherin

Flora S. Mahler

// Rezension von Anna-Elisabeth Mayer

Die Raststätte der Zeit

Schon das Cover von Die Zeitforscherin (Müry Salzmann, 2023) verspricht eine Verschiebung der Wahrnehmung und der Zeit. Das Bild trägt den Titel Sympathy for Telepathy und stammt von dem Künstlerkollektiv Asgar/Gabriel – letztere ist die als Schriftstellerin zeichnende Flora S. Mahler, die nach ihrem Debüt Julie Leyroux (Müry Salzmann, 2021) nun mit Die Zeitforscherin ihr zweites Buch veröffentlicht.

Im Buch ist es die Ich-Erzählerin Ina (von Martina), die mit ihrem polyamourösen Bruder und dessen schwangerer Freundin im Auto Richtung Kärnten unterwegs ist. Der Tod der Großmutter ist Anlass der Reise, traurig genug – aber im Unterschied zum Tod der Mutter zu bewältigen. In Mahlers unübertroffener Lakonie liest sich letzterer zunächst einmal so: „Erste Runde. Die Gestaltung der Parte. Gedacht als leichte Einstiegsaufgabe. Der ältere der beiden Mitarbeiter war enttäuscht, als wir gleich beim Trauerspruch versagten, uns Nachdenkzeit erbaten, da etwas Persönliches wollten. Ein Blick auf die Uhr. Sie könnten das auch zuhause. Mailen Sie uns dann bitte die Datei.“ (S. 14)

Doch die Lakonie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der frühe Krebstod der Mutter eine Wunde ist – auch nach zehn Jahren nicht geheilt. Man spürt es schon an der Zärtlichkeit, mit der die Mutter beschrieben wird: „Wenn sie aus der Dusche steigt, hat sie Locken, klein wie die, die sie in Geschenkbänder macht, indem sie die Enden mit Druck über den Schaft einer Schwere zieht. Ich finde sie wunderschön und verstehe nicht, wieso sie auf große Wickler gelegt, ausgeföhnt, toupiert und mit Taft fixiert werden müssen.“ (S. 10)

Im Zuge der Autofahrt zieht das Leben der Ich-Erzählerin an uns vorbei, aber es wäre natürlich nicht Mahler, wenn es bei einer biographisch-literarischen Reise bliebe. So ist die Ich-Erzählerin auch hauptberuflich eine Zeitforscherin und als solche die Leiterin eines globalen pataphysischen Zeitforschungsclusters.

Pataphysik? Die Pataphysik geht auf den französischen Dichter Alfred Jarry zurück, der vor mehr als hundert Jahren mit ihr die „Wissenschaft des Speziellen“ begründete, und etwa mit der Berechnung von der Oberfläche Gottes die Latte hochlegte. „Pataphysik ist kein Nonsense. Oder wenigstens nur halb“ (S. 46), antwortet Ina ihrem Bruder, der seiner Freundin gegenüber anmerkt, dass seine Schwester – kaum zu glauben – als Rednerin der pataphysischen Gesellschaft eine Gefragte sei.

Die übrige Zeit verbringt Ina damit, in ein Flugzeug Richtung Osten zu steigen, um so gegen die Zeit zu fliegen (sie entschuldigt sich für die Umweltsünde). Schließlich hatten Forscher 1971 die Zeitdilatation nachgewiesen, indem sie festgestellt hatten, dass bei einem Ostflug – einer Bewegung in Richtung der Erdrotation – die Uhren gegenüber derjenigen am Boden nachgingen: „Ich fliege, um mein Leben zu verlangsamen, um die Zeit zu dehnen. Ich will so weit hinter der Zeit am Boden zurückbleiben, dass die Vergangenheit zur Gegenwart wird.“ (S. 81)

Doch warum die Vergangenheit zur Gegenwart machen wollen? „Ich will einen Augenblick einholen, der in der Vergangenheit liegt; ich fliege ihm entgegen, das heißt, ich fliege ihr entgegen, ich muss sie noch einmal sehen! Ich fliege, um den letzten Atemzug meiner Mutter einzuholen!“ (S. 81) Ina schafft es, ihrer Mutter entgegenzufliegen, und sie schafft es, ihren biographischen Bogen anders verlaufen zu lassen – sodass Ina nicht ihr Physikstudium abbrechen hätte müssen, weil eine traumatische Episode in ihrer Studienzeit dazu geführt hatte. Damals wurde sie als junge Frau von einem Kollegen aus Neid auf ihre Fähigkeiten tagelang in eine Kammer gesperrt – und nicht einmal vermisst. In Mahlers Worten: „Bedeutungslos bleibt jene, die niemand vermisst. Selbst wenn sie nicht gestorben ist, lebt sie heute nicht. Wirklich.“ (S. 53) Statt in der der Pataphysik verbundenen Parallelwelt „2006 […] als jüngste und erste österreichische Astronautin der Öffentlichkeit vorgestellt […]“ (S. 68) worden zu sein und im Weltall zu schweben, sitzt Ina also angegurtet im Auto ihres Bruders Richtung Kärnten.

Der Bruder legt eine Pause in St. Marein an derselben Raststätte ein, an der schon in ihrer Kindheit die Autofahrten unterbrochen wurden. Flora S. Mahlers Beschreibung einer Raststätte wird man so schnell nicht vergessen – ihre Gabe, die dort vorbeirasende Zeit wie unter einem Fliegennetz einzufangen, ihre ungemein komischen Dialoge. Da taucht zum Beispiel Gernot unverhofft an der Raststation auf, der erste Exmann und Vater einer der beiden Kinder von Inas Schwester Claudia, zu dem Ina meint: „[Claudia] redet mit mir nie über dich.“ „Schade! Denn von dir höre ich viel – zu viel, wenn ich ehrlich bin.“ (S. 79) Das ist erst der Auftakt zu dem Gespräch mit Gernot, bevor er sich wieder in Luft auflöst.

Aber St. Marein ist auch nicht irgendein Ort. Denn „Marein. Die Buchstaben von Marie und Ina. Mama und mir.“ (S. 13) Die patente Schwester Claudia, die ebenfalls an der Raststätte eine Pause einlegt, hält allerdings der zum Abheben neigenden Ina entgegen: „Du nennst dich Zeitforscherin und merkst nicht, dass dein Leben stillsteht!“ (S. 84) Claudia setzt sich auch in Bewegung, um später Ina zu suchen – Ina wird doch vermisst.

Es ist ein berührendes Buch über den Verlauf eines Lebens und dessen Vergehen, eines über Schuldgefühle und Trauer. Zudem eine Reflexion über Zeit, aber auch ein humorvoller Text über Zusammenhalt und Familie. An einer Stelle spricht die Ich-Erzählerin vom „weichen Alt“ ihrer Großmutter: „Sie sprang auf die ersten Silben wie auf Steine in einem Bach, den sie querte.“ Genauso ist jeder Ton getroffen, jedes Wort sorgsam gewählt. Es ist äußerst originell gedacht, elegant in seiner Ausführung und verbunden der Sprache.

Also, keine Zeit verlieren, auf: und in der Buchhandlung nach Die Zeitforscherin fragen – ein Gewinn in jeder Welt!

 

Anna-Elisabeth Mayer, geb. 1977 in Salzburg, lebt heute als Schriftstellerin in Wien. Studium der Philosophie und Kunstgeschichte. Für ihr Debüt Fliegengewicht (Schöffling Verlag) wurde sie mit dem Literaturpreis Alpha 2011 ausgezeichnet. 2014 folgte der Roman Die Hunde von Montpellier (Schöffling). Im darauffolgenden Jahr erhielt sie den Reinhard-Priessnitz-Preis. Ebenfalls bei Schöffling veröffentlichte sie 2017 den Roman Am Himmel und im Frühjahr 2023 ihren vierten Roman Kreidezeit, der sich mit der fortschreitenden Digitalisierung auseinandersetzt.

Flora Mahler Die Zeitforscherin
Roman.
Salzburg, Wien: Verlag Müry Salzmann, 2023.
155 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag.
ISBN 978-3-99014-245-5.

Verlagsseite mit Informationen zu Autorin und Buch

Homepage von Flora S. Mahler

Rezension vom 28.12.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.