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Wozu der Aufwand? Gastlandprojekte bei Buchmessen im Visier: am Beispiel Österreichs

Di. 19.3.2024

„Gastlandprojekte sind Aufforderungen, Neues kennen zu lernen, sich in Unbekanntes vorzuwagen, zugleich die eigene Position, das eigene Welt-Bild sowie Selbst-Bild zu überdenken: Anstiftungen zu Reflektion also.“

 

ein Feature von Katja Gasser  // künstlerische Leiterin des österreichischen Gastlandauftritts bei der Leipziger Buchmesse 2023 und seit Juni 2023 wieder Literaturressortleiterin im ORF-TV // über Gastlandauftritte bei Buchmessen

 

Sieben Bäume wachsen jetzt in Sachsen, die an den Gastlandauftritt Österreichs bei der Leipziger Buchmesse 2023 erinnern. Wie das kommt? Beim Poetry Slam – Länderbattle, der synchron zur offiziellen Eröffnung der Leipziger Buchmesse im Werk II unter regem Publikumsinteresse stattgefunden hat, haben sich die österreichischen Autor:innen durchgesetzt. In ihrem Namen, also im Namen von Elias Hirschl, Mieze Meduza, Markus Köhle und Precious Nnebedum, wurden daraufhin Bäume gepflanzt: ein Preis der besonderen Art also.

Eine sehr schöne Idee, die ganz dem Anspruch gerecht wird, dem sich das Gastlandprojekt Österreich bei der Leipziger Buchmesse 2023 von Beginn an verschrieben hat: nämlich möglichst nachhaltig auf unterschiedlichen Ebenen zu wirken, kein bloßes Strohfeuer zu erzeugen. Ausdruck von Nachhaltigkeit des Gastlandauftritts Österreichs ist etwa auch der Umstand, dass das Projekt Archive des Schreibens – filmische Kurzporträts österreichischer Autorinnen und Autoren für lineares TV wie für Online entwickelt – auch nach dem Gastlandauftritt fortgeführt wird: was als Kooperationsprojekt zwischen dem Gastlandprojekt und dem ORF begonnen hat, wird heute als Kooperation zwischen der Österreichischen Gesellschaft für Literatur in Wien, der ORF-TV-Kultur und ORF-Topos fortgeführt – einstweilen für die nächsten 4 Jahre.

Warum diese Nachhaltigkeit ins Spiel bringen gleich zu Anfang des Nachdenkens darüber, welchen Sinn Gastlandauftritte bei Buchmessen haben? Wo es doch augenfällig ist, dass diese Gastlandauftritte nicht zuletzt dazu dienen, die Aufmerksamkeit für die Buchproduktion der jeweiligen Länder wie das Interesse für ihre Kultur im Allgemeinen anzukurbeln in der Hoffnung auch auf ökonomische Effekte, nicht zuletzt im Tourismus. Das ist die eine Seite, die profane, gewissermaßen. Die andere ist – und ohne diese andere Seite würde auch Ersteres nicht funktionieren – dass diese Gastlandauftritte immer auch Möglichkeiten bieten, miteinander ins Gespräch zu kommen über nationale, kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg. Gastlandprojekte sind Aufforderungen, Neues kennen zu lernen, sich in Unbekanntes vorzuwagen, zugleich die eigene Position, das eigene Welt-Bild sowie Selbst-Bild zu überdenken: Anstiftungen zu Reflektion also.

Und hier kommt wieder die Nachhaltigkeit ins Spiel: Dialoge, die den Namen verdienen, überdauern den Moment, in dem sie stattfinden. Dialoge, die den Namen verdienen, wirken nach, im besten Fall verändern sie alle Beteiligten, bringen etwas in Bewegung, ins Rutschen, stürzen einen ins Denken. Und wie könnte so etwas, wenn es gelingt, anders bewertet werden als ein Ereignis von hoher gesellschaftlicher Relevanz, zumal in einer Zeit, in der sich liberale Demokratien weltweit im Rückzug befinden und sich als besonders fragil erweisen? Gastlandauftritte gehören gerade jetzt gefördert. Vorausgesetzt, liberale Demokratien bleiben wesentlicher Bestandteil unseres Selbstverständnisses, was nicht nur zu hoffen, sondern auch zu fordern ist, zumal von Vertreten der Kunst und Kultur. Damit ist auch deutlich gemacht: Gastlandprojekte sind immer auch politische Projekte und das in vielerlei Hinsicht. So kann man an der Entwicklung und der Ausrichtung eines Gastlandprojekts durchaus den Zustand der Demokratie im jeweiligen Land ablesen: wo die Freiheit der Kunst ernst genommen wird, wo die Politik verstanden hat, dass sie sich inhaltlich nicht einzumischen hat in diese Bereiche, dort ist die liberale Demokratie in der Regel in einem durchaus respektablen Zustand.

Zurück zum Aspekt der Nachhaltigkeit. Als Kuratorin des Österreich-Auftritts in Leipzig 2023 hat mich dieser Aspekt von Beginn an umgetrieben. Zusammen mit der Frage, wie ein so reiches Literaturland wie Österreich präsentiert werden kann, ohne dass es auf eine Erzählung hin reduziert wird – zugleich, ohne den Auftritt völlig beliebig werden zu lassen. Ich habe diese Aufgabe als eine große, nicht zuletzt literarische Herausforderung angenommen und mich um ein Gastlandprogramm bemüht, das einem offenen Text gleicht: einer Erzählung, die Wirklichkeit weniger abbildet als vielmehr um sie ringt. Ganz im Sinne Paul Celans: „Wirklichkeit ist nicht. Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein.“

Dieser Zugang verunmöglichte es auch, aus dem Programm eine ideologische Setzung zu machen: denn: Ideologischem ist bekanntlich Geschlossenes immanent und Prozesshaftes fremd. Womit das Motto des Gastlandprojekts ins Spiel kommt, das wesentlich den Auftritt Österreichs prägte: meaoiswiamia wurde von Thomas Stangl entwickelt für das Projekt, einem der herausragendsten österreichischen Autoren also. Dass seine Literatur für ein avanciertes Schreiben steht, zugleich diesem Schreiben ein hohes politisches und gesellschaftliches Bewusstsein eigen ist: dieser Umstand war für die Entwicklung des Mottos wie letztlich für die Entscheidung dafür in besonderer Weise relevant. Das Gastlandprojekt nahm das ‚offene Wir‘, das in dem Motto meaoiswiamia beschworen wird, in allen darin geborgenen Bedeutungsschichten ernst: es durchlüftete verhärtete Konstellationen und Bilder, legte sich mit konventionellen Zuordnungen und Definitionen spielerisch wie entschieden an, wirkte dadurch integrativ und nicht ausschließend – die Involvierung bisher noch unbekannter literarischer Stimmen verstand sich deshalb von selbst. Es wurde mithin der Versuch unternommen, Form und Inhalt, also Motto des Gastlandauftritts und das Programm des Projekts zur Deckung zu bringen. Dass der Gastlandauftritt weithin als Erfolg gelesen wurde: das hat auch damit zu tun.

Die Entscheidung, im Programm des Gastlandprojekts die Vielfalt der hiesigen Literatur und Buch-Produktion auf unterschiedlichsten Ebenen radikal ernst zu nehmen, auch historisch, diese sichtbar zu machen und zu zeigen, dass viele verschiedene Genres, verschiedene Sprachen und Kulturen unser ‚wir‘, unsere Wirklichkeit bestimmen – diese Entscheidung erwies sich als ungeheuer produktiver Faktor. Und sie führte dazu, dass sehr viele, sehr unterschiedliche Protagonist:innen der Branche das Projekt mittragen konnten. Dieses Mittragen des Projekts durch unterschiedlichste Vertreter:innen der Buch- wie Literaturszene: es war essentiell für das Gelingen des Gastlandprojekts und es verhinderte, dass das Projekt zu einem Selbstbedienungsladen für Selbstprivilegierungsgeneigte werden konnte.

Die vielen Kooperationsprojekte – mit dem Burgtheater, der Österreichischen Nationalbibliothek, den Wiener Wortstätten, den heimischen Literaturzeitschriften, dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen, dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften, dem Literaturhäusernetzwerk in Österreich wie in Deutschland, dem Institut für Jugendliteratur, der Maria-Lassnig-Stiftung, der schule für dichtung in wien, dem Leipziger Literaturinstitut, dem Institut für Sprachkunst in Wien etc. – haben dafür gesorgt, dass die inhaltliche Vielfalt noch viel weiter reichen konnte als sie das Projekt selbst hervorbringen hätte können. Außerdem war mit den Kooperationspartnern, die mit großer Sorgfalt ausgesucht wurden, für eine durchaus international wettbewerbsfähige Professionalität auf allen Ebenen und inhaltliche Hochkarätigkeit gesorgt.

Die Lehre aus all dem? Zumal für mich? Es lohnt sich, das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen, und zwar so, dass es Luft zum Atmen gibt für alle, es lohnt sich, der Vielfalt Raum zu geben, Partizipation nicht nur rhetorisch zu beherzigen, auf einen egalitären Ton wie Blick zu bestehen, die Spielbegabung des Menschen nicht aus den Augen zu verlieren und auf seine Fähigkeit zu Humor zu setzen. Es lohnt sich, die Kunst ernst zu nehmen. Dass das Gastlandprojekt in seiner Vielgestaltigkeit nicht nur der Literatur- und Buchwelt Österreichs einen guten Dienst erwiesen hat, sondern darüber hinaus der Verständigung, der Reflexion wie Selbstreflexion und damit demokratiepolitisch Relevantes geleistet hat: davon bin ich heute überzeugter als am Beginn des Projekts. Was wäre gegenwärtig, um zum Anfang zurückzukommen, also in einer Zeit multifaktoraler Krisen, für eine liberale Demokratie auf dem Gebiet der Kunstförderung sinnvoller, als in solche internationalen Projekte zu investieren? In Projekte, die den grassierenden und äußerst gefährlichen Simplifizierungsprozessen entgegenwirken können, indem sie unter anderem zeigen: Komplexität und Fremdheit sind etwas Schönes. Und: niemand kommt ohne sie aus.

Eine Literatur, in der man nur das Vorausgesetzte nachlesen kann, kann keine gute Literatur sein: ein Projekt, das nur das Vorausgesetzte spiegelt, kann ebenfalls kein herausragendes sein. Das Gastlandprojekt Österreich bei der Leipziger Buchmesse 2023 nimmt für sich in Anspruch, über das Vorausgesetzte hinaus gewiesen zu haben inklusive des Versprühens utopischer ‚Es soll anders werden‘-Funken: friedlicher, solidarischer, gerechter also.

Zurück zu den Bäumen, die im Namen der oben aufgezählten österreichischen Autor:innen in Sachsen wachsen: Der große polnische Autor Adam Zagajewski schreibt: „Wir sollten uns die Bäume zum Vorbild nehmen; sie wissen, wie sie zu wachsen haben – nicht nur durch den einen zentralen Stamm, auch durch die Nebenäste, die komplexe Harmonie und das Gleichgewicht zwischen ihnen.“

Ja, wir sollten uns die Bäume im Sinne Adam Zagajewskis zum Vorbild nehmen!

meaoiswiamia – revisited

Ein Jahr nach der „denkbar erfreulichste[n], sichtbarste[n], wirkmächtigste[n] Austria-Sause“ (Jo Lendle) nimmt www.literaturhaus-wien.at das Thema Buchmesse-Gastland näher in den Blick:
Neben Katja Gassers Bilanz hat sich Eva Zimmermann, die Leiterin der Pressedokumentation im Literaturhaus Wien, die Medienberichterstattung zum Gastland-Auftritt Österreichs genauer angeschaut. Ihren Presse-Überblick finden Sie hier

meaoiswiamia – unter diesem Motto präsentierte sich Österreich als Gastland auf der Leipziger Buchmesse 2023 (27.–30.4.2023). Zuletzt war Österreich 1995 in Frankfurt Gastland bei einer Buchmesse.
Für die künstlerische Leitung von Gastland-Leipzig 2023 zeichnete die Kulturjournalistin, Literaturvermittlerin, Literaturkritikerin und Moderatorin Katja Gasser verantwortlich.
Auf dem Programm standen neben Auftritten von rund 200 Autor:innen aus Österreich auch Konzerte und Ausstellungen.
Auf https://gastland-leipzig23.at/presse/ sind noch einige Inhalte – wie Namen und Kurzbiografien der Mitwirkenden oder Fotoalben von ausgewählten Veranstaltungen – nachles- und -schaubar.
Die anlässlich des Länderschwerpunkts begonnene Autor:innen-Porträt-Serie Archive des Schreibens ist auf  ORF Topos nachzuschauen.

 

Katja Gasser, Foto: © Ingo Pertramer

Katja Gasser ist Kulturjournalistin, Literaturvermittlerin, Literaturkritikerin und Moderatorin.Geboren 1975 in Klagenfurt/Celovec. Dissertierte über Ilse Aichinger und Günter Eich. Zwischen 1999 und 2001 Universitätslektorin in Oxford. 2019 Österreichischer Staatspreis für Literaturkritik.
Sie hat den Gastlandauftritt Österreichs bei der Leipziger Buchmesse 2023 künstlerisch verantwortet. In dieser Zeit war sie als Literaturressortleiterin im ORF-TV freigestellt. Mit Juni 2023 hat sie die Leitung des Literaturressorts im ORFTV, die sie seit Ende 2008 inne hat, wieder übernommen.

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