#Sachbuch

Zwischen Einflussangst und Einflusslust

Joanna Drynda, Alicja Krauze-Olejniczak, Slawomir Piontek (Hg.)

// Rezension von Stefan Winterstein

Harold Blooms Theorie der Einflussangst, 1973 formuliert („The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry“), erfreut sich in der Literaturwissenschaft des deutschsprachigen Raums seit ihrer 1995 vorgelegten Übersetzung durch Angelika Schweikhart („Einflußangst. Eine Theorie der Dichtung“) einer breiten Bekanntheit, die sich freilich weniger auf kollektiver Durchdringung und Detailkenntnis als auf Plastizität und Attraktion des zentralen Begriffs zu gründen scheint.

Auch ohne sich in das aus freudianischen Konzepten, klassischer Rhetorik sowie gnostischen und kabbalistischen Vorstellungen gezimmerte Theoriegebäude vertieft zu haben (und womöglich gerade dann), kann man Blooms Grundidee, intergenerationelle Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Schriftstellern als ödipal-katastrophische, d. h. auf Auslöschung drängende Auseinandersetzungen von „Epheben“ mit ihren dichterischen Vorläufern zu beschreiben, zweifellos einigen Charme abgewinnen. Wie sehr der Begriff der Einflussangst „zum Bonmot“ geronnen ist, wie es im einleitenden Aufsatz von Günther A. Höfler (Graz) zum vorliegenden Band heißt (S. 12), zeigt exemplarisch gerade die Begriffspaarung im Haupttitel eben dieses Buches: Zwischen Einflussangst und Einflusslust.

In den weiteren versammelten Beiträgen wird meist nur sehr am Rande – wenn überhaupt – auf Bloom und sein konflikttheoretisches Konzept, geschweige denn dessen Details und Methodik, Bezug genommen. Angesichts dessen sei hier dahingestellt, ob eine Berufung des Titels auf Begriffe wie „Tradition“/“Innovation“, „Kanonlinien“ oder „Abwehr“/“Aneignung“, wie sie das Herausgebervorwort und Höflers genannter Einführungstext – der aufgrund fehlender Wiederaufnahme seitens der übrigen Autoren erratisch wirkt – auch beinhalten, womöglich treffender und auch authentischer gewesen wäre. Der Buchuntertitel immerhin spricht deutlich unverbindlicher von der „Auseinandersetzung mit der Tradition in der österreichischen Gegenwartsliteratur“.

Die Feststellung, dass für die heimische Literatur der vergangenen zwei Jahrzehnte noch keine Konturierung literaturgeschichtlicher Zusammenhänge, keine verlässlichen Kanonlinien und keine spezifisch literaturbezogenen Ordnungsmuster sichtbar sind, bildet den Ausgangspunkt der Anstrengungen des in Posen beheimateten Herausgebertrios – Joanna Drynda, Alicja Krauze-Olejniczak, Slawomir Piontek –, gemeinsam mit zwölf weiteren Autoren vor allem aus Polen, aber auch aus Österreich, Tschechien und Ungarn, wenigstens einige Verbindungslinien zwischen literarischen Exponenten und Produkten der letzten zwanzig Jahre und der Tradition zu zeichnen – seien es nun eben Linien, die von Abwehr, oder solchen, die von Aneignung geprägt sind. Die Herausarbeitung literaturgeschichtlicher Beziehungen müsste demgemäß das Programm bilden, und sie gelingt mehrfach zweifellos, aber auch der Entwurf neuer Ordnungsmuster steht im Raum; vielleicht ist die Beschlagwortung mit dem Begriffspaar „Einflussangst“/“Einflusslust“ auch als Ausweichmanöver vor der schieren Größe dieses Desiderats zu begreifen.

Die Beiträge des Bandes sind, wie das in Sammelbänden eben häufig passiert, eher disparat und liegen da näher, dort weniger nah am gestellten Generalthema. An Gegenwartsliteraten in den Blick genommen werden, manchmal intensiv, manchmal nur am Rande, oft auch mehrfach (im Folgenden in alphabetischer Reihenfolge genannt): Arno Geiger, Thomas Glavinic, Erich Hackl, Elfriede Jelinek, Vea Kaiser, Reinhard Kaiser-Mühlecker, Daniel Kehlmann, Robert Menasse, Martin Pollack, Christoph Ransmayr, Elisabeth Reichart, Clemens J. Setz, Michael Stavaric, Marlene Streeruwitz, Peter Turrini, Manfred Wieninger sowie Josef Winkler. Auch Peter Handke wird mehrfach thematisiert, allerdings, neben etwa Thomas Bernhard oder Ingeborg Bachmann, bereits als Klassiker, der jüngeren lebenden Schriftstellern als Bezugsfolie dient.

Die größten Erkenntnisgewinne ergeben sich wahrscheinlich dort, wo die jüngsten Autoren („Generation Y“) literarisch verortet und zu zentralen Kategorisierungen der siebziger, achtziger Jahre – namentlich etwa zur Überkategorie „Heimatliteratur“ – in Bezug gesetzt werden. So behandelt die Mitherausgeberin Joanna Drynda die Inszenierung des Dörflichen in Romanen von Vea Kaiser und Reinhard Kaiser-Mühlecker und kommt zu dem Schluss, dass beide weder der Anti-Heimat- noch der Heimatliteratur zuzuordnen seien (sondern offenbar einem noch namenlosen Dritten). Erich Hackls Buch „Dieses Buch gehört meiner Mutter“ wiederum (um einen älteren Autor herauszugreifen) wird in einem Beitrag von Joanna ?awnikowska-Koper (Czenstochau) am Kreuzungspunkt der Ordnungskategorien „Heimatliteratur“ und „Bekenntnisdichtung“ untergebracht, wobei der Schriftsteller unter Rückgriff auf das Ur-Mutterbuch „Wunschloses Unglück“ als ein Nachfolger Handkes firmiert.

Wertvolle Grundlagenarbeit liefert Günther Stocker (Wien) mit seiner auch vergnüglich zu lesenden Abhandlung zu Josef Winklers Handke-Verehrung, die an plakativen Autor-Äußerungen wie „Gegen Handke bin ich ein Analphabet“ festgemacht wird. „Es lässt sich“, stellt Stocker eingangs zu Recht fest, „im Literaturbetrieb nicht oft beobachten, dass ein prominenter zeitgenössischer Autor mehrfach und explizit seine Bewunderung für die Literatur eines anderen zeitgenössischen Autors äußert.“ (S. 99) Mögliche Anknüpfungspunkte für diese Bewunderung und deren Niederschläge werden von Stocker bis in die ideellen Tiefen der literarischen Œuvres nachverfolgt.

Verdienstvoll ist aber etwa auch Dana Pfeiferovás (Pilsen) Untersuchung zur literarischen Nachwirkung Ingeborg Bachmanns, wo ein Bogen von der an Bachmann orientierten Figur der Dichterin Maria in Bernhards „Auslöschung“ über Jelineks Drehbuch zur „Malina“-Verfilmung und Bachmann-Affinitäten bei Stavaric bis hin zu strukturellen Parallelen in Reicharts „Das Haus der sterbenden Männer“ geschlagen wird; danach wird mit Libuše Moníková und Radka Denemarková aber auch die tschechische Literatur in den Blick genommen.

Weiters enthält der Band Beiträge von Kalina Kupczynska (Lodz) über Clemens J. Setz; Marta Wimmer (Posen) über Manfred Wieningers Krimis und ihren Bezug zur Anti-Heimatliteratur; Kurt Bartsch (Graz) über die Kontexte von Hackls dokumentarischem Erzählen; Agnieszka Palej (Krakau) über Martin Pollacks Galizien-Bild; Lucjan Puchalski (Breslau) über Peter Turrinis Nestroy-Bezüge; Attila Bombitz (Szegedin) über eine Art von Geschichte der österreichischen Gegenwartsliteratur als Abfolge der Weltbilder von Bernhard, Handke, Ransmayr, Menasse, Kehlmann und Glavinic; Maria Naganowska (Posen) über Ransmayrs literaturgeschichtliche Kontextualisierung; Slawomir Piontek (Posen) über die postmoderne Verfasstheit von Arno Geigers „Es geht uns gut“; sowie Anna Rutka (Lublin) über das Problem der Erbschaft in zwei jüngeren Romanen von Marlene Streeruwitz, „Die Schmerzmacherin“ und „Nachkommen“.

Zu bedauern ist – weil es die Lektüre teils beschwerlich macht –, dass die Artikel nicht gründlicher sprachlich überarbeitet wurden.

Joanna Drynda, Alicja Krauze-Olejniczak, Slawomir Piontek (Hg.) Zwischen Einflussangst und Einflusslust
Zur Auseinandersetzung mit der Tradition in der österreichischen Gegenwartsliteratur.
Wien: Praesens, 2017.
168 S.; geb.
ISBN 978-3-7069-0971-6.

Rezension vom 18.12.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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