#Roman

Zwischen den Gezeiten

Michael Wallner

// Rezension von Georg Renöckl

„Du hast wie immer auf nichts gesetzt“, schimpft Marianne ihren Mann Erik beim Kartenspielen im Familienkreis, nachdem er mit dem Kreuz-Buben ungeschickt verloren hat. Die Szene, die sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg im britisch besetzten Norddeutschland abspielt, ist bedeutungsschwanger: Erik war ein glühender Nationalsozialist, durch das Setzen auf die (Haken-)Kreuzbuben hat er schon einmal verloren. Die Familie ist trotz Eriks Rolle als Paradenazi des Dorfes glimpflich davongekommen: Die Entnazifizierung hat ihn zwar den Job als Bahnhofsvorstand gekostet, doch immerhin wohnt er mit Frau und Tochter Inga in einem Haus, in dem sich allerlei gegen Geld und Lebensmittel eintauschbare Gegenstände befinden. Die 18-jährige Inga, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird, arbeitet als Sekretärin bei den Besatzungstruppen.

Vor dem düster schwarz-weißen Hintergrund der Besatzungszeit bahnt sich in Michael Wallners Roman Zwischen den Gezeiten eine leidenschaftliche Affäre zwischen Inga, der „civilian employee“ im britischen Camp, und dem schottischen Leutnant Alec Hayden an. Die Leidenschaft des Schotten gilt allerdings vorerst nicht der jungen Deutschen, sondern den Spielkarten. Fasziniert von Alec und seiner Meisterschaft wird auch Inga zur Spielerin, heimlich trägt sie die mittelalterliche Madonnenstatue ihrer Eltern zum Pfandleiher. Als sie nach einem Streit mit Alec das wertvolle Stück in letzter Minute doch wieder einlösen möchte, ist das Haus des Pfandleihers verschlossen und wirkt gespenstisch unbewohnt. Der Weg zurück ist versperrt, das Unglück nimmt seinen Lauf.

Eigentlich fehlen bei der Lektüre von Zwischen den Gezeiten nur die Geigen im Hintergrund. Ansonsten schnurrt diese Geschichte von Liebe, Lust und Leidenschaft nach dem Weltkrieg so routiniert, wohldosiert spannend und vorhersehbar vor dem inneren Auge des Lesers dahin wie ein solider Hollywoodstreifen. Inga verspielt das Vermögen ihrer Eltern, gerät in zweifelhafte Schmuggler- und Kriegsgewinnlerkreise, verliert Jungfräulichkeit und Selbstachtung, gefährdet das Leben Alecs und ihren guten Ruf, wird vom endlich aus seiner Lethargie erwachten Schotten aus höchster Not gerettet, dann kommt der Dampfer, der die britischen Soldaten zurückbringt, ein letzter Kuss an Bord des Schiffs, Schnitt, Streicher.

Zwischen den Gezeiten ist nicht für Leser, sondern für das Kinopublikum geschrieben. Die erzählerischen Möglichkeiten des Romans interessieren Wallner wenig, er beschränkt sich über weite Strecken auf visuelle Effekte und bleibt dadurch an der Oberfläche seiner Geschichte. In den entscheidenden Kartenpartien des Buches etwa werden vor allem Lichtstimmungen beschrieben, die durch die tief hängende Lampe und den Zigarrenrauch entstehen, die geröteten Gesichter, die Haarfarben der Beteiligten und ihre Gesichtsausdrücke – so, als würde man die Szene im Kino sehen. Als Film würde das Konzept vielleicht aufgehen, beim Lesen derartiger Passagen stellt sich hingegen sehr schnell gepflegte Langeweile ein. Die Faszination, die das Kartenspiel bei allen Beteiligten auslöst, bleibt so unerklärt wie unerklärlich.

So wenig wie um das Ausloten der Untiefen zerstörerischer Spielleidenschaft geht es dem Roman um das Aufdröseln der Verstrickung seiner Figuren in Verbrechen und Gedankengut des Nationalsozialismus. Die Nazis sind zwar besiegt, doch das harmlos klingende „Nichts“, auf das nicht nur Erik gesetzt hat, prägt nach wie vor Sprache und Denken der Deutschen. Über den im Krieg getöteten Bruder Ingas heißt es etwa, er habe „dem Sturm nicht standgehalten“, die Familie wird außerdem von einer „Roten“ erpresst, die von den Nazis beraubt und vertrieben wurde und nun finanzielle Wiedergutmachung fordert. Inga versteht ihren Vater und dessen „Glauben an etwas, das er als Neuordnung begrüßte“, sie ist wütend auf die gemeine Erpresserin.

Der Erzähler geht dazu nicht auf Distanz, auch seine Sprache ist verharmlosend. Die braune Vergangenheit Eriks, der als Bahnhofsvorsteher auch Güterzüge mit menschlichen „Einheiten“ registrierte und nach wie vor Hitlerbilder auf dem Dachboden verwahrt, bezeichnet er etwa als „kindischen Hang zu Pracht und feierlichem Schein“. Irritierend ist der Ausgang der Erpressungsgeschichte: Im letzten Moment gelingt es Ingas Familie, die geforderte Summe aufzutreiben. Unmittelbar danach kommt die Währungsreform und die einst von den Nazis unter Eriks Führung ausgeplünderte und verjagte Erpresserin verliert zum zweiten Mal alles, sie sitzt auf einem völlig wertlosen Haufen Papiergeld. Inga und Erik bekommen hingegen vom herzensguten Pfandleiher die eingesetzte Statue rückerstattet. Derartiges mag empfindliche Leser befremden, ist aber leicht erklärt: Die Nazi-Episoden haben in Zwischen den Gezeiten in erster Linie die Funktion, der Liebesgeschichte zwischen Inga und Alec Spannung zu verleihen. So versetzt Inga die Madonna unwissentlich genau in dem Moment, als ihr Vater durch seine Nazi-Vergangenheit von der Erpresserin unter Druck gesetzt wird. Als sie dann als Diebin unter Anklage steht und ihr Haus durchsucht wird, finden die britischen Soldaten Eriks Hitlerbilder, die Lage der Familie verschlimmert sich dadurch noch weiter. So wirkt die Rettung der tief gefallenen Heldin aus höchster Not erst richtig dramatisch, Eriks braune Vergangenheit hat damit ihren Zweck für die Geschichte erfüllt. Tiefer geschürft wird in Wallners Roman nicht.

Man soll einem Text nicht vorwerfen, etwas zu unterlassen, was er ohnehin nicht anstrebt. Michael Wallner erzählt seine Liebesgeschichte vor historischem Hintergrund so gekonnt wie massentauglich. Ihre Vorhersehbarkeit und der mitunter etwas sorglose Griff in die Kiste mit den Nazi-Requisiten verleihen dem Buch aber auch etwas von der beklemmend-langweiligen Atmosphäre eines Canasta-Abends in einer altdeutschen Stube, an deren Wand ein Hitlerbild hängt.

Zwischen den Gezeiten.
Roman.
München: Luchterhand Literaturverlag, 2007.
254 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-630-87255-1.

Rezension vom 11.02.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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