#Lyrik

zwirnen

Gertrude Maria Grossegger

// Rezension von Birgit Schwaner

Sie und ich, das Leben: als ob –
Weibliche Identitätssuche in Gertrude Maria Grosseggers zwirnen.

 

Schon beim ersten Blättern in zwirnen zeigt sich: Man hat es mit einem Text zu tun, der, je nach Perspektive, als rhytmisierte Posa oder Prosagedicht (um das pathetischere Wort „Epos“ zu vermeiden) bezeichnet werden könnte: Flattersatz und Zeilenbrüche, Kleinschrift, Untergliederung in verschieden lange Abschnitte, die jeweils durch Kursivschrift ihrer ersten und letzten Zeile optisch gerahmt und durch Leerzeilen voneinander getrennt sind, wären als erste formale Charakteristika zu nennen. Hinzu kommt der Verzicht auf Satzzeichen, der, Abschnitt für Abschnitt, den Eindruck eines gleichmäßigen Redeflusses noch verstärkt – wobei die auf Sprache angewandte Metapher vom Flüssigen, Fließenden jetzt angesichts des Buchtitels zwirnen gleich als – kleines – Sprungbrett genutzt sei: zur nicht minder einschlägigen, naheliegenden Fadenmetapher (vgl. z.B. den Flusslauf als blaues „Band“ in der Landschaft; den Lebenslauf als Lebensfaden; den Text als Gewebe, das von Handlungssträngen und „roten Fäden“ durchzogen ist). Das Verb „zwirnen“ bezeichnet in der Textilbranche die Herstellung eines Zwirns – eines starken, extra haltbaren Fadens –, indem zwei oder mehr Fäden ineinandergedreht werden. Bei Grosseggers Werk bezieht es sich, wie der Klappentext weiß, inhaltlich auf das „Verzwirnen“ von „unterschiedlichen Bewusstseinsebenen“. Aber ebenso betrifft „zwirnen“ die Schreibweise bzw. -form der Autorin und das Thema Sprache selbst, das von Beginn an sozusagen als dritter Faden mit eingezwirnt wurde.
Anders gesagt: Die Sprache ist in dieser Literatur nicht bloß das künstlerische Medium, sondern wird selbst thematisiert – und damit auch als Medium des Denkens, der Weltdarstellung, Machtausübung, des individuellen Ausdrucks zum Problem, das in seiner Lösung immer wieder enthalten wäre – ein Dilemma, an dem sich jede und jeder Schreibende abarbeitet, Scheitern vorprogrammiert. Aber auf welche Weise geschieht’s in „zwirnen“?
Nach dem ersten Satz „es soll sich so abspielen“ werden wir, als Leser, mit den Voraussetzungen des Textes vertraut gemacht (wobei „abspielen“ nicht nur den „Handlungsfaden“, sondern auch das wittgensteinsche „Sprachspiel“ assoziieren lässt):

Der Text beginnt in der „Ich“-Perspektive, von wo aus der Blick auf die Protagonistin fällt: eine Frau, die lediglich „sie“ genannt wird. Diese fordert die Ich-Erzählerin auf, sie – „als ob es in echt wäre“ – zu begleiten, um über sie zu schreiben: „es sei an der zeit dass sie sich fasse / sie sei im nächsten moment schon wieder eine andere / sie möchte jemanden haben der mitgeht / ein beobachtendes anderes“ (S. 14), heißt es einmal zur Erklärung. Ein andermal ist von einer Reise die Rede, freilich einer, bei der man daheim bleibe, so tue, als ob. Die zwei Wörtchen „als ob“ – die im Denken Wirklichkeit und Fiktion verknüpfen und damit dem Möglichen einen Raum eröffnen (eine Bedingung von Kunst schlechthin), stellen für „sie“ eine Art existentielles Prinzip dar, sei doch „alles leben (…) immer ein als ob“ (S. 11). Nähme man diese Aussage ernst, stünde sie für einen Verdacht, der einige Jahrhunderte Philosophiegeschichte durchzieht und so verunsichernd wie befreiend wirken und dazu führen kann, das Leben ästhetisch – oder auch pragmatisch – als Kunstprojekt zu betrachten. In „zwirnen“ dient das „Als ob“ der Relativierung: Nichts ist ganz zu fassen oder festzulegen, nicht einmal „ich“ und „sie“ sollen sich deutlich voneinander abheben, als sei die erste Person nur eine weitere Maske der dritten und vice versa, beide namenlos (wie auch alle weiteren Personen). Doch dieses symbiotische Alter-Ego-Verhältnis zwischen „ich“ und „sie“ gehört zum Plan, ebenso wie das Ineinanderprojizieren von – um einen Handke-Titel zu variieren – Innenwelt in Außenwelt in Innenwelt, Projektionsfläche: die Sprache.

So ist die Frau, um die es geht, von dem Wunsch getrieben, zur Sprache zu kommen, im assoziativen Erinnern und Aussprechen/Aufschreiben dessen, was sie bewegt, Klarheit über sich und ihr Dasein zu erhalten:
„sie sehe sich jetzt als alles das was sie vorher war
aus diesem sehvorrat heraus wolle sie ihr weiteres leben leben“

und einige Zeilen weiter:
„sie könne das vorherige erst sehen wenn sie es in worte kleide
sonst werde nichts sichtbar sei alles wie fortgeschwemmt
sie errede sich das vergangene ließe alles aus ihr [sic!] herausreden“
(S. 13).
Die wiederkehrende „Alles oder nichts“-Haltung der Protagonistin – die sie mitunter wie eine entfernte Verwandte der Thomas Bernhard‘schen Monologhalter/innen erscheinen lässt – könnte man als Ausdruck einer drängenden Sehnsucht lesen, die für den Text die Rolle einer Initialzündung (d.h. des Plots) übernimmt: die Sehnsucht eines Menschen, der unter dem Imperativ „Du musst dein Leben ändern“ (Rilke), versucht herausfinden, wer er/sie ist und weiterhin sein könnte. Kurzum: Es geht um ein kardinales Thema der Literatur – die Suche nach der eigene Identität. Jedoch schickt Grossegger ihre Heldin hierzu keineswegs in die Welt hinaus – nein, die Reise, auf der „sie“ mit sich konfrontiert werden und Erfahrungen sammeln soll, führt in die Vergangenheit. Die erinnerten Szenen und Situationen zeigen „sie“ in verschiedenen Lebensphasen: als kleines Kind, als Mädchen, Jugendliche, als erwachsene Frau und schließlich, in einer Zukunftsvision, als Greisin mit weißem Haar. Wie die vorkommenden Personen werden auch die Orte in „zwirnen“ meist nicht mit Namen genannt, so dass jede der erinnerten/vorgestellten Szenen ein wenig wie ins Traumhafte – oder auch: Allgemeingültigere – verschoben wird. So ist etwa von einem Dorf die Rede, von Kühen und Pferden, dem Aufwachsen und Leben auf dem Land. Einmal sieht „sie“ sich etwa als kleines Kind, in dessen Zeichnung die Kindergärtnerin „in ihrer freizeit“ eine Sonne hineinmalt (S. 87). Für die Erwachsene wird die eigenmächtig von der Pädagogin ergänzte „ordentliche Sonne“ am rechten oberen Bildrand zum Symbol eines genormten bzw. vorgegebenen Lebens, in dessen Namen die kindliche Phantasie schon früh gewaltsam beschnitten wird. Andere Erinnerungen zeigen zum Beispiel das Mädchen, etwa beim Kochen von Schweinefett und Abschöpfen von Grammeln oder in der Klosterschule, wo sie erstmals Leonhard Cohen hört; die junge Frau allein im Frühstückssaal eines Hotels mit einem sie ängstigenden, zudringlichen Kellner; die Frau bei einer Bootsfahrt mit zwei Männern, während eines für sie beklemmenden Fernsehinterviews nach einer Preisverleihung oder als Touristin in einem fremden Land, das Ägypten sein könnte, wo sie von einem zunehmd unheimlich werdenden Fremdenführer in einer Großstadt herumgeführt wird, an deren Rändern die Wüste beginnt … – All diese Szenen, die manchmal weitergesponnen werden und in surreale, teils albtraumhafte Bilder einmünden, widerspiegeln die Empfindungen der Protagonistin. Vor allem: ihr Unbehangen in einer Gesellschaft, die sie als fremd, beängstigend und empathielos zu erfahren scheint. Besonders die Männer, von denen „sie“ erzählt, muten grobschlächtig oder unverschämt an, scheinen potentielle Gewalttäter. Wobei körperliche Gewalt „lediglich“ als Möglichkeit vorkommt, durch Blicke oder Gesten der Männer angedeutet werden kann, aber nicht muss – in einer patriarchalen Gesellschaft ist das Machtgefälle der Geschlechter im System festgeschrieben und im Alltag so evident wie in der/durch die Sprache. Doch „sie“ ist ja keine, die sich wie Don Quijote voller Illusionen aufmachte, um an den herrschenden Zuständen zu scheitern. Sie blickt stattdessen in ihr „Inneres“ und findet – wie könnte es anders sein – dort die Außenwelt. Dieser steht sie hilflos und passiv, ja geradezu leidend gegenüber, gefangen in einer Sprachlosigkeit, die ihren Grund im Wesen der Sprache selbst hat, in den gesellschaftlich etablierten Kommunikationsmustern – „sie“ weiß nicht, wie sie sich verständigen könnte. Folgerichtig geschieht die Befreiung am Ende des Textes nicht im Sprechen, sondern im Singen und dann, vor allem, im wortlosen Schrei. Im Schrei, im ausbrechenden, endlich laut gebenden, kräftigen Gefühl wird auch die Situation der Hilflosigkeit durchbrochen. Zugleich scheint mit dem Schrei, der reinen Stimmäußerung abseits der Sprache, der kathartische, individuelle Ausdruck gefunden. Im Schrei werden die Leiden zusammengefasst und gewendet, der Schrei als entgrenzende Aktion und „Außer-sich-Sein“ (vgl. in der Mythologie die schreienden Mänaden) markiert zudem das Ende der Identitätssuche, katapultiert die Schreiende quasi aus dem Käfig der Rollen- bzw. Genderzuschreibungen hinaus – und vereint „sie“ und „ich“, die Redende, Erinnernde und die Hörende, Schreibende zu einer Person.

Beim Lesen von zwirnen hätte sich die Rezensentin manchmal gewünscht, mehr über die Gedanken der Protagonistin zu erfahren – oder überhaupt: von einer zu lesen, die ab und zu das eigene Verhalten (im doppelten Sinn) hinterfragte. Und wäre da nicht Gertrude Grosseggers Sprachkunst, ihr erhellendes Spiel mit Wörtern und Begriffen – man wollte angesichts der wohl absichtlichen, atmosphärisch dichten Schilderung eines von Ängstlichkeit und Mutlosigkeit durchzogenen Frauenlebens (das aber am Ende geändert wird) den Text bald beiseitelegen.
Aber da geht die Sprache vor. Denn die Autorin ist eine Meisterin im Zwirnen, im Drehen und Wenden, Wiederholen und Variieren der Begriffe, die sich in ihren Bedeutungen und Mehrdeutigkeiten entfalten. Staunenswert die Fülle an Bildern, Neologismen und Vergleichen, die sie allein mithilfe von Metaphern aus dem Textilbereich herstellt. So macht sie sich zum Beispiel die doppelte Bedeutung des Wortes „Schöpfer“ zunutze, um anhand des Stopfens, bei dem man das löchrige Stoffstück über einen umgedrehten Schöpflöffel legt, ihre Protagonistin die Glaubensfrage ansprechen zu lassen. Das Synonym für Gott vexiert da zum Schöpflöffel, der gebraucht werde, um das eigene „löchrige leben“ zu stopfen, und die Rede zwirnt sich immer weiter, als verselbständigten sich die Wörter in Rage, bildeten Neologismen wie die „unerschöpfliche lochschöpferin“ und absurde, ja paradoxe Bilder wie „ungestopfte löcher fallen aus dem leben“ (S. 23).
Dabei ist Letzteres, wissen wir, ein „als ob“. Am Ende heißt es „träumung“. Die Sterne sind jetzt allerdings sichtbar, nur Angst kommt auf, „das meer könnte fehlen“. Und wenn nicht das Meer, sondern die Angst ein „Als ob“ wäre?

Gertrude Maria Grossegger zwirnen
Langgedicht.
Wien: Passagen Verlag, 2019.
157 S.; brosch.
ISBN 978-3-7092-0363-7.

Rezension vom 27.01.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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