#Prosa

Zweier Zeugen Mund

Maximilian und Emilie Reich

// Rezension von Ursula Seeber

Im Herbst 2006 beschloß die Gemeinde Wien, drei Straßen im Stadtentwicklungsgebiet des 21. Bezirks nach bekannten Sportjournalisten zu benennen: Heribert Meisel, Edi Finger und Maximilian Reich. Während die ersten der mittleren und älteren Generation von Radiohörern noch geläufig sind, ist letzterer heute völlig vergessen. Dabei gilt Maximilian Reich (1882-1952) als einer der Pioniere des österreichischen Sportjournalismus. Selbst aktiver Fußballer, startet er nach 1918 eine Karriere als Sportreporter bei dem im sozialdemokratischen Vorwärts-Verlag erscheinenden Kleinen Blatt. Unmittelbar nach dem „Anschluß“ wird er aus der Redaktion entlassen, verhaftet und von April 1938 an in den Lagern Dachau und später Buchenwald interniert. Ende 1938 gelingt die Flucht nach Großbritannien, wo er nach einer weiteren Internierung als „feindlicher Ausländer“ ab 1942 beim German Service der BBC tätig ist. Ende 1946 kehrt die Familie Reich nach Wien zurück, wo Maximilian Reich im Auftrag des Bundespressedienstes die Zeitung Wiener Montag gründet und als Chefredakteur leitet.

Maximilian Reich war unter den 150 Häftlingen des „Prominententransports“, der am 2. April 1938 nach Dachau ging, so genannt, weil sich auf ihm bekannte Hitlergegner befanden: aus der Politik die beiden späteren Bundeskanzler Leopold Figl und Alfons Gorbach aus dem bürgerlichen Lager sowie der Sozialist Robert Danneberg, aus dem Pressewesen Viktor Matejka und Mark Siegelberg, aus dem Kulturbetrieb Fritz Beda-Löhner und Raoul Auernheimer.

Wolfgang Neugebauer nennt die Autobiografie von Maximilian Reich in seiner Einführung den ersten schriftlichen Bericht eines österreichischen KZ-Häftlings. Umso unverständlicher erscheint die von absurden Hindernissen begleitete Publikationsgenese dieses außergewöhnlichen Dokuments über fast siebzig Jahre hinweg, die im Vorwort der Herausgeberin beschrieben ist. Henriette Mandl, Tochter der Reichs und selbst Anglistin, Kunsthistorikerin und Autorin, hat sich der editorisch anspruchsvollen wie emotional belastenden Aufgabe unterzogen, die Erinnerungen ihrer Eltern an das Jahr 1938, deren Originale sich in Familienbesitz befinden, zu veröffentlichen. Hier war zunächst historische und philologische Feinarbeit gefragt. Maximilian Reich kam durch mutiges Handeln seiner „arischen“ Frau und einen Glücksfall noch Ende 1938 frei. Im britischen Exil schrieb er um die Jahreswende 1938/39 seine Erlebnisse nieder, zunächst eine Erzählerfigur benützend. Die zweite, maschinschriftliche Version verfaßte er in Ich-Form und in der zurückgenommenen Tonlage eines Berichts. In beiden Fassungen anonymisierte er die Personen weitgehend, um noch im Lager befindliche Kameraden oder in Österreich Zurückgebliebene nicht zu gefährden.

Die Herausgeberin hat den Menschen ihre Namen und Biografien zurückerstattet und den Erinnerungen ihres Vaters behutsam eine Gestalt gegeben, die den (mit-)leidenden Chronisten vorher nicht gekannter Menschenverachtung ebenso wenig verleugnet wie den professionellen Schreiber. „Ich wäge jedes Wort“, sagt Maximilian Reich an einer Stelle, und so wirken diese Aufzeichnungen auch: präzise, wenn es um die Schilderung täglicher Abläufe im Lager, um die Rituale von Gewalt und Demütigung geht; Objektivität suchend, wenn einmal ein Moment von Menschlichkeit in den Reihen der SS-Männer zu beobachten ist; empathisch, wenn Maximilian Reich von seinen Kameraden erzählt – herzzerreißend die Geschichte des Boxers Willy Kurtz, eines Freundes aus Wien, der durch Liebesverrat dem Tod in Auschwitz ausgeliefert wird.

„Als mein Mann in Dachau war“ heißen die – ebenfalls bisher unpublizierten – Aufzeichnungen Emilie Reichs über die Monate nach dem „Anschluß“. Unprätentiös dokumentiert sie den angstvollen Alltag als alleinstehende Mutter in einem sich nazistisch entblätternden familiären und Freundesumfeld, ihre energischen Versuche, den Mann freizubekommen, die ambivalenten Gefühle bei der Reise ins Exil.

Tochter „Etti“, gestützt auf ein eigenes Notizbuch aus der Zeit, bringt im zweifachen Sinn „geteilte“ Erinnerungen in diese Doppelbiografie ein. Sie fungieren als Ergänzung und nicht selten als Korrektiv der elterlichen Berichte: Unbeirrt beobachtet hier ein Kind, dem man die großen Katastrophen der Weltgeschichte liebevoll verschweigen will, während doch die kleinen (der geschorene Kopf des Vaters) schon alles sagen.

Zweier Zeugen Mund.Verschollene.
Manuskripte aus 1938.
Wien – Dachau – Buchenwald.
Herausgegeben von Henriette Mandl.
Wien: Theodor Kramer Gesellschaft, 2007.
306 Seiten, broschiert, mit Abbildungen.
ISBN 978-3-901602-30-6.

Verlagsseite mit Informationen über das Buch

Rezension vom 06.11.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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