#Roman

Zwei Königskinder

Sophie Reyer

// Rezension von Marcus Neuert

Die Wienerin Sophie Reyer ist derzeit eine der produktivsten Schriftstellerinnen Österreichs: fast zeitgleich gibt es zwei neue Bücher von ihr, „Das stumme Tal“, einen bei Emons erschienen Krimi über ein historisch verbürgtes Verbrechen im Tirol des ausgehenden 19. Jahrhunderts und den soeben bei Czernin vorgelegten Roman Zwei Königskinder, der das modische Coming-Of-Age-Etikett nicht zu Unrecht trägt, ist er doch eine Annäherung an die Gefühls- und Entwicklungswelt einer Dreizehnjährigen, die mit sich selbst, der ihr abhanden kommenden Kindheit und der Erfahrung erster – in diesem Falle lesbischer – Liebe zu kämpfen hat.

Als ob Sophie Reyer den stimmungsmäßigen Ausgleich gesucht hätte zum eher spektakulären Genre des Kriminalromans, kommt die Thematik der Zwei Königskinder vordergründig recht unauffällig daher; allenfalls die Tatsache, dass es in dem Buch um das wachsende Selbsteingeständnis der Protagonistin Käthe geht, nicht in einen Jungen, sondern in die zwei Jahre ältere Johanna verliebt zu sein, sorgt aufs erste Anlesen für eine Variation des häufig genutzten Motivs pubertärer Verwerfungen. Doch Sophie Reyer nimmt sich ihres literarischen Personals auf eine behutsame Art und Weise an, die die eher alltägliche Geschichte zu einem lesenswerten Buch macht. Dabei ist Käthe, aus deren Perspektive durchgehend berichtet wird, nicht nur in ihrer Eigenwahrnehmung das völlig unperfekte Wesen – mit dem strähnigen Haar, das an ihr hinabhängt „wie glatte Nudeln“, der zu großen Nase, dem zu breiten Becken und Fingern wie „Spinnengebein“. Sie reiht sich durchaus auch selbst ein in die Hackordnung der Dorfjugendlichen und ist nicht ganz unfroh darüber, dass es Birgit gibt, die trotz reicher Eltern mit ihren Pickeln und der verkrümmten Hand noch unter ihr steht. Dieses Ungeschönte in der Beschreibung der Charaktere, die nie nur Opfer oder nur Täter sind, sondern äußeren Umständen unterworfen, macht nicht zuletzt den Reiz der „Königskinder“ aus.

Käthe, deren Mutter vor einiger Zeit ihren Mann und ihre Tochter verlassen hat, um in der Stadt ihre berufliche Selbstverwirklichung zu suchen, lebt seither mit ihrem schweigsamen und dem Alkohol zuneigenden Vater auf dessen kleinem Bauernhof. Im Kirchenchor lernt sie Johanna kennen, und auf dem Programm steht auch das alte Volkslied von den Königskindern, die wegen des tiefen Wassers nicht zueinander finden können. Es wird, zumindest für Käthe, gewissermaßen zum Soundtrack ihrer Beziehung. Die beiden freunden sich rasch an, obwohl Käthe von den wohlhabenden und sehr religiös ausgerichteten Eltern Johannas eher Ablehnung entgegenschlägt. Johanna besucht eine Eliteschule in der Stadt und hat, wie viele höhere Töchter, wenig freie Zeit. Einzig ihre 17-jährige Schwester Emilia akzeptiert Käthe, die sich langsam eingestehen muss, dass sie mehr für Johanna empfindet als nur eine Mädchenfreundschaft. Die beiden Heranwachsenden singen und spielen für eine Musicalproduktion vor, Johanna bekommt eine Haupt-, Käthe hingegen nur eine unbedeutende Nebenrolle – und schon entwickelt Käthe die Angst, Johanna gleich wieder zu verlieren. Sie inszeniert mithilfe von Birgit sogar einen Unfall, bei dem sich Johanna verletzt und ihre Bühnenpläne zunichte gemacht werden: „Und ich, ich war ein Monster. Weil ich sie so sehr brauchte. Weil ich sie haben wollte. Haben, für mich allein“, resümiert Käthe. Doch die eigentliche Gefahr droht von einer anderen Seite: Johanna, die Käthes uneingestandene lesbische Gefühle nicht teilt, verfällt mehr und mehr einer Art religiösem Wahn, der sich in der Wahrnehmung einer Engelsstimme manifestiert und Käthe ausschließt: „Gott stellte sich immer zwischen sie und eine mögliche Begegnung mit mir. Wie sollte ich ihr klar machen, dass ich sie liebte?“

Käthe flieht in erste sexuelle Begegnungen mit Jungen, doch es wird ihr bald klar: „Es würde keinen Richtigen geben … Ich liebte Frauen. Das wusste ich jetzt.“ Dabei hat sie das Gefühl, „selbst nicht richtig“ zu sein. Sie fühlt sich zunehmend isoliert, nimmt gar die Serie von Selbstverletzungen wieder auf, wie bereits nach dem Fortgang ihrer Mutter: „Ich würde sagen, dass ich mit einer Katze gespielt hatte. Außerdem würde ohnehin niemand fragen.“ In ihren dunklen Stunden denkt sie an Selbstmord, bis zu der Nacht, in welcher sie die inzwischen immer verzweifelter agierende Johanna nach deren Sprung von der Brücke aus dem See rettet.

Ein Wiedersehen mit ihrer Mutter, bei dem diese ihre komplette Überforderung eingesteht, bringt Käthes mühsam zusammengehaltene Existenz schließlich komplett ins Wanken. Stilistisch ist dies durch ein immer konfuseres Zusammenfließen aus Realität und Erinnerung gekennzeichnet. In einem kurzen Epilog resümiert Käthe noch einmal ihre von Anfang an aussichtslose Liebe zu Johanna.

In vielen Rückblicken greift der Roman Szenen aus der Kindheit Käthes auf, wirft das Lesepublikum allerdings oft ein wenig unvorbereitet hinein, so dass mitunter ein Gefühl zeitlicher Inkonsistenz entsteht. Das passt in gewisser Weise zu den mäandernden Gefühlen Käthes, ihren Ups und Downs in der ländlichen Umgebung, in der sie „tat, was man in einem Dorf als pubertierender Mensch eben so tut: ich überlebte.“ Außerdem gelingen Sophie Reyer in diesen Retrospektiven die poetischsten Passagen des Romans, in denen offenbar wird, dass sie bei aller Begabung zur Erzählerin auch immer eine wache lyrische Stimme hat, die sich wie selbstverständlich in die Prosa mit einwebt und zu ungewöhnlichen und berührenden Analogien findet: „Die Kuppel der Kirche kam mir immer vor wie der Innenraum eines Mundes.“

Reyers Stil ist ansonsten ohne Schnörkel, und gerade ihre sprachliche Schlichtheit transportiert die Liebesgeschichte ohne Larmoyanz und mit großem Einfühlungsvermögen. Zwei Königskinder ist nicht in erster Linie ein Jugendbuch, auch wenn das Sujet eigentlich dafür spräche. Doch Käthe scheint aus der Distanz einer vielleicht zwanzig Jahre älteren Frau zu erzählen, ihre Sprache ist bei aller Nähe zu den Geschehnissen die einer Erwachsenen.

Sophie Reyer Zwei Königskinder
Roman.
Wien: Czernin, 2020.
184 S.; geb.
ISBN 978-3-7076-0689-8.

Rezension vom 23.04.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.