#Prosa

Zwei Blatt und zwei

Annett Krendlesberger

// Rezension von Birgit Schwaner

Kein Entkommen, nicht mal in Rom

Annett Krendlesbergers furiose Erzählung Zwei Blatt und zwei ließe sich schnell zusammenfassen: Die Ich-Erzählerin Ursula ist in ihren Arbeitskollegen und „Kumpel“ Magnus verliebt. Noch bevor sie ihm sagen kann, was sie empfindet, erzählt ihr Magnus, dass er sich verliebt hätte: in die – mit schlanker Silhouette und langem Blondhaar ausgestattete – gemeinsame Kollegin Yvonne. In ihrem Elend nimmt Ursula eine Woche Urlaub (auch, um die Verliebten nicht sehen zu müssen) und fliegt auf Rat ihrer Freundin Allegra hin nach Rom. Hier bezieht sie Allegras leerstehende Wohnung und versucht, ihren Liebeskummer und die Kränkung durch Magnus‘ Zurückweisung zu überwinden. – So weit, so banal. So banal als Fall, so dramatisch als Erfahrung, so zeitlos als Thema. Und so komplex, bei näherer Betrachtung.

Der oder die unglücklich Verliebte: eine Figur, deren Schicksal in der Literatur Tragödien oder Komödien generiert oder, lebensnah, beides zugleich. Proust verglich einmal den Zustand der Verliebtheit mit einer bösen Verzauberung, wie im Märchen: Erwacht man daraus, reibt man sich die Augen, blickt verwundert auf das Subjekt seiner ehemaligen Begierde und versteht nicht mehr, was eine/n daran einst im Innersten so ver-rückte. Auch in Zwei Blatt und zwei, das sei vorab verraten, erlöst Annett Krendlesberger ihre Protagonistin zuletzt von dieser „Verzauberung“ – doch bis dahin folgen wir ihr durch mehrere Phasen des Liebeskummers, durch Erstarrung, Wut und Verzweiflung, durch Momente abgrundtiefer Tristesse, Unbehagen und Überdruss, und erfahren die ganze Geschichte. Auf rund 140 Seiten, unterteilt in zwanzig kleine Kapitel/Episoden – die teilweise per se als Kurzgeschichten gelesen werden könnten. Wenn es denn leicht wäre, das Buch aus der Hand zu legen.

Die Sprache Krendlesbergers entwickelt hier nämlich (zumindest für Ihre Rezensentin) von der ersten Seite an einen Sog, dass es eine Freude ist: klar im Rhythmus, kein Wort zu viel (elliptische Sätze), eindringlich, plastisch und abwechslungsreich (treffsichere Neologismen, Parodistisches, Märchenhaftes, Einsprengsel aus dem Wienerischen, Italienischen u.a.), oft von expressiver Unmittelbarkeit. Dieser Text rückt seinem Leser nah und fesselt in seiner beklemmenden wie tragikomischen Darstellung eines im Labyrinth seiner Gefühle, Vorurteile und Illusionen herumirrenden und auf die Zumutungen der Welt mit Wörtern einhauenden Menschen – bis zur letzten Seite. Eine Assoziation: Ingmar Bergmann sagte einmal (sinngemäß), er habe sich fürs Filmemachen entschieden, weil das Publikum im dunklen Kinosaal wie im Mutterbauch säße und gezwungen sei, auf die angestrahlte Leinwand zu schauen und auszuhalten, was immer er zeige. Und zu diesem „Aushalten, was immer gezeigt wird“, bringt Annett Krendlesbergers Kunst ihre Leser.

Schon die ersten Worte stimmen, im Stakkato, auf das Dilemma ein – und bauen eine dichte Atmosphäre auf: „Schwarzer Estrich, Metalltische, Sesselrücken, hell und hart kratzt’s am Schmelz. Rohziegelwunden klaffen an den Wänden, bis auf den Knochen aufgerissene, schlammfarbene Haut.“ Derart, als versehrten, disparaten Leib beschreibt Ursula das Lokal, in dem sie zu Beginn mit Magnus sitzt, für den derselbe Ort nur „herrlich berlinesk“ ist. Der Leser ahnt bereits: Hier leben zwei in konträren Welten. Und nach einmaligem Umblättern fällt Ursula aus ihrer rosa Wolke, schlägt selbst „hell und hart“ auf dem Boden der Tatsachen auf und steigt, quasi mit ‚aufgerissener Seele‘, ins Taxi, zum Flughafen bitte. Und schon blickt der Leser durch ihre Augen, schwankend zwischen Faszination und Unbehagen angesichts des zwiespältigen Wesens, das sich hier, Satz für Satz, offenbart.

Dass Hauptprotagonistin Uschi nicht unbedingt zur Empathie neigt, zeigt schon das zweite Kapitel, betitelt mit „Vierzig Einhundert“ (nach der Telefonnummer eines Wiener Taxiunternehmens): Hier begleitet der dickliche und, sie beschreibt’s genau, proletenhaft gekleidete Taxler Jeff Ursula ins Flughafengebäude und trägt ihren Koffer. Vielleicht ist er nur freundlich – doch Ursula ist er aufgrund seines Äußeren peinlich. Dennoch lässt sie ihn wohl in dem Glauben, er helfe ihr, und erträgt seine Gesellschaft – so lange, bis sie in ihrer Angst um die eigene ‚Fassade‘ glaubt, dass die anderen Fluggäste den ungepflegten Jeff für ihren Mann halten und sich über sie lustig machen: „Da, schau her, Randfiguren!“ (S.19). Lesend verfolgt man eine unselige „Double Bind“-Situation: wie Ursula durch die Unfähigkeit, Jeffs Hilfe abzulehnen, eine Situation herbeiführt, in der sie sich gefangen fühlt. Und wie sie dann, als sie endlich den ihr lästigen Mann verabschiedet, meint, ihn verletzt zu haben und eine Spur „abfälliges Mitleid“ mit ihm zeigt.

Dass man sich lesend in der Haut dieser komplexbeladenen, weder mutigen noch selbstbewussten Person wiederfindet, ist nicht zuletzt der Erzählperspektive des inneren Monologs geschuldet (von der sich Leser am schwersten distanzieren können). Das „Text-Ich“, diese Ursula, ist, wie gesagt – und so sehr man ihren desolaten Zustand versteht –, nicht unbedingt sympathisch. Prinzipiell möchte man sich als Leser/in ja mit diesem Ich, dessen Gedanken man hier erfährt, anfreunden, ihm recht geben. Doch derlei simple Identifikation weiß Annett Krendlesberger meisterinnenhaft zu verhindern: Vor allem durch Ursulas kalt abschätzenden, durch die eigenen, konsum- und leistungsgesellschaftlich bedingten Deformationen geprägten Blick auf andere (wie auf sich selbst) wird man immer wieder aus einer versöhnlichen Stimmung gegenüber dieser Protagonistin gerissen. Uschi, die Cargohosen trägt und von sich sagt, sie habe nie viel vom grassierenden Wettbewerbszwang gehalten, urteilt und verurteilt aufs strengste, rächt sich an ihrer oberflächlichen, einen Menschen vor allem nach Statussymbolen wie Markenkleidung, Figur, Besitz und Beruf bewertenden Umgebung mit der Boshaftigkeit der intellektuell überlegenen Außenseiterin, die – so glaubt sie – nicht ‚dazugehört‘, aber die entsprechenden Codes bestens internalisiert hat und als Waffe einsetzt. Das heißt, sie übernimmt den „oberflächlichen“ Blick der anderen, unter dem sie sich entwertet fühlt (und nie erkannt, anerkannt) und treibt diesen ihrerseits dermaßen auf die Spitze, dass er schon wieder Tiefenschärfe entwickelt. Bis ihre (unterhaltsamen) boshaften Bemerkungen vor allem Ursulas Irrglauben an die genormte „Schönheit“ als Allheilmittel (etwa gegen Einsamkeit) widerspiegeln, sie selbst als Betrogene zeigen. Womit ein unangenehmer Punkt erreicht ist, an dem man sich mit dieser Protagonistin doch verwandt fühlt:

Denn natürlich steht dieser Irrglaube für einen Triumph der Konsumindustrie und damit für eine gesellschaftliche Fehlentwicklung, die auf der Ignoranz gegenüber „eigentlicheren“ Werten im immerhin einzigen Leben beruht. Wie viele Frauen, die der Illusion nachhängen, dass sich für sie was-auch-immer zum Guten und Glücklichen wendete, wären sie nur schlank und schön „genug“, scheint auch Ursula ein Opfer der ewig neuen Hochglanzversprechen der Werbewirtschaft, die es versteht, ihre potentiellen Kundinnen im Zustand einer steten Unzufriedenheit mit sich selbst zu halten. Je unsicherer eine ist, je perfekter eine sein will, desto leichter lässt sie sich verblenden, desto stärker hängt sie am Haken der Diäten-Verkäufer, Kleiderhändler, Kosmetikkonzerne, Friseure etc. etc.: „Und schon reißt Dutyfree sein cremiges Maul auf, ein Maul voll Glitzertand, auf der Zunge, zwischen den ungeheuren Zähnen, überall, im Ungeheuergebiss, blitzt’s und blinkt’s, einmal da, einmal dort, kommt nur näher, schaut sie euch an, meine Regale, meine Vitrinen […]“ (S. 26).

Krendlesbergers Figur der Uschi ist sich der eigenen Verblendung bewusst, ohne sich befreien zu können. In Rom betritt sie etwa einen Laden, in dem eine Frau den Boden putzt und sich dabei von keinem stören lässt. Ursula beobachtet sie, taxiert ihre Kleidung, und wundert sich, wie es dieser einfachen Frau möglich ist, „Würde“ auszustrahlen (und warum sie nicht servil aufspringt und nach den Wünschen der Touristin fragt). Als ahne sie, dass das eigene Weltbild nichts als eine schillernde Blase sein könnte. Der Text ist durchzogen von Hinweisen wie diesem, die sich, verknüpft mit der Geschichte einer Desillusionierung, als Kritik an der seelischen Unwirtlichkeit des – sehr salopp gesagt – zeitgenössischen, vor allem städtischen Lebensstils lesen lassen. Passend unwirtlich sind auch viele Schauplätze der Erzählung: das modisch-gesichtslose Szenelokal, der Flughafen, ein Wellnesshotel – austauschbare und identitätslose „Nicht Orte“, die laut dem französischen Philosophen Marc Augé mit dem Globalisierungskapitalismus überall gleich aussehen und als „Orte für Ortlose“ nurmehr „Einsamkeit und Gleichförmigkeit“ befördern. Jene Ort, die im Gegensatz hierzu stehen, wie Allegras Wohnung oder auch Rom mit seiner langen Geschichte und dem nur hier zu findenden, goldenen Licht der Antike, zeigen sich desolat: das Wasser im Bad funktioniert so wenig wie die Müllabführ und Ursulas Blick fällt auf einen Bettler vorm DeSpar, einen zerrupften Papagei (hier scheint sie ihre eigene Bedürftigkeit im Spiegel anderer zu erkennen) … Desolat, wie das Leben, möchte man meinen. Demgegenüber es auch nichts nutzt, wenn man „zwei Blatt und zwei“ vom Toilettenpapier abreißt und auf die Klobrille legt …

Die Berührungsangst mit diesem „Desolaten“, mit Armut, Krankheit, kurzum allem Hässlichen im Dasein bzw. mit allem, was der glänzenden Fassade widerspricht, hat Ursula am Ende der Erzählung vielleicht nicht wirklich verloren – wie sollte sie auch, handelt es sich doch um ein gesellschaftliches, zumindest in der sogenannten Mittelschicht weit verbreitetes Phänomen. Doch sie findet eine Möglichkeit, sich selbst zu helfen, bzw. auf Doderistisch: in ihrer „Menschwerdung“ fortzuschreiten. Annett Krendlesberger setzt zur Kenntlichmachung dieser Entwicklung ein Märchenmotiv ein: die, nona, Prinzessin im fleischfarbenen Tüllrock, der – man denke an den dicken Taxler Jeff – ein unförmiger Froschkönig zur Seite gestellt wird (auf den übrigens zu Anfang eine kleine, gläserne Figur im Dutyfree-Shop hinwies). Beide, die Schöne (Illusion) und der Hässliche (Realität) sind gegen Ende wie zu einer Figur verschmolzen; das heißt, zumindest ist der Frosch verschwunden und die Schmetterlinge (Farfalle-Nudeln) essende Prinzessin hat zuvor das „hellrosa Haar“ einer „Perücke, die einer Streunerin gehört“ vom „Pflaster geklaubt“ und hilft ihrem Alter Ego Ursula mit Denkanstößen und Ratschlägen. So dienen Kunst (Transzendierung ins Poetische) und Phantasie Ursula zur Selbsthilfe: Wo es nur um den schönen Schein geht, kann man diesen, zum Selbstschutz, anderen vorspiegeln. Und ganz nebenher erkennen, dass die vermeintliche Neben buhlerin eigentlich auf derselben Seite steht.

Allerdings wäre dieser versöhnliche Schluss nicht nötig gewesen; im Gegenteil, vielleicht hätte gerade ein „offeneres“ Ende dieser bemerkenswerten Erzählung gut getan. Dann würde die enttäuschte Liebe zum großsprecherischen – als Figur eher blassen – Magnus (sic!) nur die Rolle des Auslösers der Rom-Reise und eines den Blick schärfenden Zustands spielen, lägen psychischen Auswirkungen der Wettbewerbsgesellschaft, das existentielle Unbehagen Ursulas noch deutlicher zutage. Dann bliebe: das Gefangensein in Unzulänglichem, die Klarsicht bei nicht loszuwerdender Verblendung als conditio humana unserer Tage. Was aber nichts am Rezensentinnen-Urteil ändert: Ein starker Text, bitte lesen!

Annett Krendlesberger Zwei Blatt und zwei
Prosa.
Weitra: Bibliothek der Provinz, 2018.
144 S.; brosch.
ISBN 978-3-99028-740-8.

Rezension vom 28.11.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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