#Essay

Zwanzig Lewa oder tot

Karl-Markus Gauß

// Rezension von Marietta Böning

Vier Reisen.

Von echten und verfälschten Erinnerungsstücken
In einer Zeit großer Wertedebatten, die auch die Selbstverständlichkeit dessen, was Demokratie sei, infrage stellen, ist Karl-Markus Gauß nach Moldawien, Serbien, Kroatien und Bulgarien gereist, genauer gesagt auch nach Transnistrien, Gagausien, in die Vojwodina, ins Slumviertel Stolipinovo der bulgarischen Stadt Plovdiv, hat Städte besucht und Landschaften bestaunt.

In diesem großen Gebiet, von dem zum Teil Uneinigkeit herrscht, ob es eher zu Ostmitteleuropa oder Südosteuropa zählt, trifft er, wie könnte es anders sein, auf vielerlei Grenzphänomene: nationale und ideologische Barrieren und Übergänge, materielle und mentale, erinnerte, vergessene, überbaute, neu geschriebene. Seine vier Reiseessays handeln von ethnischer Vielfalt und dialektischer Färbung, aber auch von der Setzung der Amtssprachlichkeit; militärischer Starre in Gestik, in Haltung und Blick, auch vom freien Lauf des seine Eindrücke essayistisch verbriefenden Flaneurs; von Grenzdefinition und der Naturgewalt des Wassers; vom Fluss auch der Erinnerungen und von der aufoktroyierten Doktrin; von verbauten Metropolen im Globalisierungstrend und von Anmut und Wildheit kleiner vielsprachiger Regionen mit dem Willen zur Autonomie. Fühlt sich ein Gutteil der Bevölkerung Transnistriens eher noch russisch geprägt, während knapp ein Drittel Moldauer und knapp ein weiteres Ukrainer sind, so sind die Gagausen in ihrer Region den Russen, Bulgaren, Ukrainern und Bewohnern der Republik Moldau deutlich überlegen. Sie fürchten den EU-Beitritt Moldawiens aus Angst, das Land würde früher oder später von Rumänien geschluckt. Beide Provinzen wurden international nie offiziell anerkannt. Die Vojwodina, früher umkämpftes Gebiet der Ungarn und Serben, ab 1945 Serbien zugehörig, verlor unter Slobodan Milosevic an autonomen Rechten. Seither ist die Eigenständigkeit aller drei Provinzen eine unausgegorene.

Gauß spricht auf seinen Reisen mit den Einwohnern, führt Gespräche mit Schriftstellern und Studenten. Die Gespräche liefern Indizien für die in Osteuropa herrschenden Zukunftsängste und Unsicherheiten sowie Befragungen der Vergangenheit unter sowjetischer Schirmherrschaft, von denen man schwer sagen kann, wie nostalgisch sie sind. Er berichtet von Menschen, die wenig Erfahrung mit einer eigenen Regierung haben, die Industrialisierung als abrupten Übergang von Landwirtschaft in Kolchosen erlebten, die einerseits dem kommerziellen Überschwang internationaler Konzerne und ihrer Globalisierungskultur ausgesetzt sind, andererseits als Randgebiete wie auf’s Abseitsgleis geschoben erscheinen, nicht im geostrategischen Interessenfokus stehen und somit auch nicht im öffentlichen Bewusstsein.

Diese Unsicherheiten sind auch Indiz dafür, dass es kein einfaches Gemeinsamkeitsgefühl der ethnisch diversifizierten Bewohner gibt – sodass ein gemeinsames Nationalgefühl gar nicht recht aufkommen mag. Die Machthaber der Vergangenheit taten ihr Möglichstes hierzu. Das Möglichste oder Erste ist die Sprache. Eine wohl allen eigene Zeichensprache erlebt Gauß in Moldawien, während die Zaren im Gebiet Bessarabien Russisch als Amts- wie Umgangssprache befahlen. 1918, als Moldawien rumänisch war, wurde Rumänisch verordnet. Zur Zeit der Sowjetunion wiederum wurde die kyrillische Schriftsprache eingeführt, und so hin und her, und heute ist nicht ganz klar, was konservativ ist, liest man aus dem Essay: Zu Russisch sich zu bekennen oder zu Rumänisch oder die generelle Reduktion auf Einsprachigkeit?

Fragt der wissende und gebildete Autor nach den Ethnien, so auch nach dem Jüdischen. 1945 sprachen 45 % der Bessarabier Jiddisch. Spätestens nach dem zweiten Weltkrieg waren die Juden von den Deutschen und Rumänen vertrieben worden. Gauß‘ Zeitbericht lautet jedoch, die Moldawier wüssten nicht um ihre Geschichte. Eine mündliche Überlieferung also entbehrend, sucht Gauß Orte auf, wo er sicher fündig wird und alle doch irgendwie gleich sind: Friedhöfe. Neben die erzählte Geschichte tritt hier das Grab. Gauß hält fest: Er beschreibt das Foto eines Toten, dies individuelle Zeugnis, ein andermal trifft er auf eine alte Frau, deren Vater von der Wehrmacht ermordet wurde und die gar nicht kennt, dass man ihr zuhört.

Denkmälern als Erinnerungstücken geht es mitunter auch so, dass ihre Geschichte vergessen werden soll – ein wahrlich absurder Zirkel; geschehen mit Trg bana Josipa Jelacic, zu Deutsch Ban-Jelacic-Platz in der City von Zagreb samt einem Denkmal, welcher unter Tito in Trg Republike umbenannt wurde und nach dessen Tod wieder rückumbenannt. Nach dem zweiten Weltkrieg war das Denkmal von den Kommunisten zwischenzeitlich abgebaut worden, bis es unter Tudjman 1991 wiedererrichtet wurde, nun aber zeigte der Säbel von Jelacic nicht mehr wie ursprünglich nach Ungarn, sondern nach Belgrad. Jelacic war indessen ein österreichischer Offizier und hatte 1848 im Feldzug der Habsburger gegen die Ungarn die Kroaten beschützt. Er war ein Schlächter, war kein Kroate, kein Nationalist, ließ seine Liebesgedichte von einem Roma aus dem Deutschen übersetzen und wurde zum Volkshelden. Gauß schreibt viele solcher Pointen durch die Zusammenführung unterschiedlicher historischer Linien, die doch eigentlich das Bild dieser vom Heroismus vereinnahmten Menschen abgeben müssten. Heroismus erweist sich somit als verkürzende Plattitüde, weiß heute doch jedes Kind, was Gauß wiederum schelmisch vor Augen führt, wenn er von Tudjmans Selbstpropaganda berichtet, die er 1998 vor Ort beobachtete; Fotos und Plakate allüberall, sogar in Geschäften, und Schulmädchen, die sich über ihre Entdeckung des Präsidenten zwischen WC-Muscheln in einer Schaufensterauslage belustigen.

Neben den zufällig getroffen oder nur skizzierten Zeugen ihrer Generation sind es die Intellektuellen, denen Gauß sich anheimgibt und von denen er sich durch die Städte leiten lässt. Mit Werken von Danilo Kis und Aleksander Tisma erschließt er sich Novi Sad, anhand ihrer literarisch aufgearbeiteten Familiengeschichten. Über Tisma, welcher, halb Ungar, halb Serbe, der jüdischen Religion seiner Vorfahren wenig abgewinnen kann, beschäftigt sich Gauß mit dem Hang zum Verdrängen der Gewalt durch die Nazis. Mit Kis hingegen zoomt er den deportierten Vater heran, in der Mission zu benennen und zu erinnern. Sprache also erlebt Gauß auf seinen Reisen in ihrem ganzen Vermögen: zu täuschen, auszulassen, zu definieren; zu widersprechen, zu bewahren und zu umkreisen. Die Sprache ist ein bisschen wie ein Strom: er ist ständig da, doch das Wasser fließt in sich zusammen, spült weg und gräbt dabei etwas ein. Wie der Pruth, Grenze zwischen Rumänien und der Republik Moldau, übertretend, überschwemmend, Unterströmungen bildend, sich einschreibend auch.

Es sind die subtilen Hinweise auf die allgegenwärtige Dekonstruktion von alten Präsentationsmechanismen und Narrativen, welche Gauß in den bereisten Länden aufspürt und in den spannenden Kontext von geschriebener und gefälschter Geschichte, Einzelschicksalen, Spuren- und Rostbildungen stellt. Sie evozieren ein intellektuelles wie sinnliches Zeitpanorama und vermitteln ein Bauchgefühl über ein Land, das man nicht kennt, und man muss sich vorsehen, sich selbst nicht täuschen zu lassen von einen Gefühl als authentischem Resultat des Genres Essay, während Gauß‘ bissige wie nachsichtigen Analysen sehr vertrauensvoll wirken.

Karl-Markus Gauß Zwanzig Lewa oder tot
Reiseessays.
Wien: Zsolnay, 2017.
208 S.; geb.
ISBN 978-3-552-05823-1.

Rezension vom 16.06.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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