#Roman

Zwang

Harald Gsaller

// Rezension von Guenter Vallaster

Das Buch beginnt so wie das Leben: mit Ei und Au – ein Sehtext in der Form eines Eis gehalten, dessen Schale oder Haut der Satz-Loop „Der Körper spielt schon lange keine Rolle mehr“ bildet und dessen Inneres von Sätzen mit „Zwang“, „wissen“, „nicht“ und „warum“ getragen, um nicht zu sagen zusammengepresst wird. Mit den gelb-braun-blauen inneren Ringen, von denen ein Strich abzweigt, ist er auch als Glaskörper eines Auges deutbar, der eine programmatisch-emblematische Lupe über das legt, was dann in fünf dichten Kapiteln ausgeführt und genauestens reflektiert wird: Eben das Leben.

Und das Leben heißt hier Zwang. Grimms Wörterbuch gibt darüber Auskunft, dass „zwingen“ die Bedeutung „mit der Faust zusammenpressen“ zugrunde liegt – umgelegt auf das vorliegende Buch könnte das ein Bild von der Welt als geballte Faust ergeben, in deren dunklen Höhlen sich das Individuum zu orientieren versucht, der es aber auch ins Fäustchen lacht. Nur folgerichtig, dass auch der Protagonist, der im weiteren Textverlauf an ausgewählte Orte und Lebensstationen geleitet, Zwang heißt. Und wer nur ein wenig die Biografie Harald Gsallers kennt, etwa weiß, dass er in Wien-Hietzing lebt, wird sehr schnell bemerken, dass es sich hier um einen stark autobiografisch gefärbten Text handelt, der die Leserin und den Leser auch sehr nahe an den Autor respektive seine Lebensumwelten heranlässt, von den Jugendjahren bis zur Gegenwart.

„Auch Zwang faszinierte das Grimmsche Wörterbuch“ (20) heißt es im ersten Kapitel „Im Zwang“, dessen Unterkapitel mit den sprechenden Titeln „Wittgenstein“, „Schmaltiere“ und „Berg aus Mehl“ den Erfahrungen mit dem Heranwachsen zwischen der grau schmauchenden VÖEST in Linz und der pink-floydig schmetternden „Atom Heart Mother“ in London gewidmet sind, mit ersten intensiven geistigen – Wittgenstein – und körperlichen – Beatrice – Anregungen. Während das knapp gehaltene zweite Kapitel, „Die Katzen“ und „Die Vitrine“ in dichten, geradezu eingepferchten Satzfolgen durch den Zoo mit allem Sammler-Drum und Jäger-Dran der Tierwelt führt und dabei plastisch in Wiedergabe emotionaler mündlicher Rede die Zwangsituation des Lebens im Gehege vorführt, knäuelt das umfangreichere dritte Kapitel „Pas de deux“ umso ruhiger die Beziehung mit Gerda auf. Zwang wird in diesem privaten Raum auch, in Anlehnung an Wittgenstein, Ludwig genannt. Unter autobiografischem Aspekt betrachtet erzeugt die Setzung der eigenen Person als Figur mit anderem Namen eine Distanz, die einiges von sich selbst erst sichtbar, vor allem beschreibbar machen kann; ein Verfahren, das exemplarisch Ilse Kilic und Fritz Widhalm in ihrem biennal erscheinenden Verwicklungsroman durchführen, in dem sie als Figuren Jana und Naz auftreten. Distanz wird im Verlauf dieses Kapitels vor allem aber räumlich-geografisch begriffen: Ausgehend von den behaglichen Seiten der eigenen vier Wände, die mit flauschig weißem Hemd auf dem Wäschetrockner und eisfilmüberzogenen Campari Soda-Fläschchen auch fotografisch festgehalten werden (3.1. „Philodendron erubescens“), erfolgen vergnüglich zu lesende Dokumentationen von allerlei Skurrilitäten in Grätzel und Hieb (3.2 „Die Hietzinger Hauptstraße“): „Hietzing bedeutet: In-Kamel-Haar-gegründet-Sein“ (60). In 3.3. „In Tatra Mountains“ und im ersten Abschnitt des vierten Kapitels „Under the Influence“, 4.1. „Yakimanka und Talk“, vergewissern sich Gerda und Ludwig ihrer Nähe auf Reisen, die bis nach Moskau führen. Das Kapitel 4.2. „Die Vitrine II“ setzt mit der bildlichen Verschränkung eines Zahnarztbesuches mit einem Biss an einem Beutetier in einem Tierpark analog zum zweiten Kapitel einen zweiten drastischen verbalen Gehegegitterstab. Das abschließende 5. Kapitel „Die Nadel (am Grund des Meeres)“ markiert dann letztlich aber einen taoistischen Ruhepol, Zwang begegnet Meister Zhang: „Das Sinken in das Becken und über die Schenkel, Beine, Füße in den Boden lässt den Geist ein Berg sein und den Körper leicht: So soll es sein, sollte es sein“ (94).

Zwang ist ein kenntnisreiches und beredtes Buch, in dem der Begriff „Zwang“ in allen möglichen Bedeutungsnuancen vom äußeren bis zum inneren Zwang ausgelotet und mit witzigen Alltagsbeobachtungen unterlegt wird. Die Bandbreite des Schreibduktus reicht von philosophischen Thesen über aphoristische Betrachtungen bis zur avancierten Plauderei. Markant ist in diesem Zusammenhang der grüne Punkt, der am Anfang und am Ende des Buches steht und immer wieder an einigen Textstellen in unterschiedlicher Größe auftaucht und wie der grüne Punkt beim Facebook-Chat wirkt. Textlich ist auch bemerkenswert, dass sich Harald Gsaller von den pointierten, Bedeutungsräume eröffnenden Kürzestdichtungen in „Zack!“ (Linz: Blattwerk 1995), die oft nur aus einem Phrasem bestehen, zunehmend in dichte syntaktische Gewebe bewegt; eine Entwicklung, die der opulente und arabeskenhaft durchkomponierte Doppelroman „Schakolatta / Winterschlaf“ (Wien: Comet Books 2006), der der Sucht am Beispiel eines Schokoholics auf den Grund geht, bereits belegt und in „Zwang“ eine Fortsetzung erhält.

Harald Gsaller, der sich unter anderem mit Transponierungen der barocken Form des Emblems in die avancierte Gegenwartsliteratur einen Namen machte, ist eine feste Größe in der visuellen und konzeptuellen Poesie. Davon legen auch die über das Buch verteilten meist triadisch angeordneten Fotoarbeiten Zeugnis ab, die zusammen mit den ebenfalls triadisch gehaltenen Kapitelüberschriften wie Inscriptiones und Picturae in der Emblematik wirken, in die auch noch die Buchkapitel als Subscriptiones und damit drittes Emblem-Element einbezogen werden können, wodurch gleichsam Groß- oder Hyperembleme entstehen. Mit Zwang legt Harald Gsaller wiederum ein spannendes Text-Bild-Gesamterlebnis vor, dessen doppelte und mehrfache Böden von Daniel Wissers erlesenem Verlag Der Pudel in ein adäquates bibliophiles Buch-Erlebnis gepackt wurden.

Harald Gsaller Zwang
Roman.
Mit Emblemen und Fotos des Autors.
Wien: Der Pudel, 2010.
96 S.; brosch.
ISBN 978-3-9501830-5-4.

Rezension vom 24.01.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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