#Lyrik

Zufällig in St. Francisco

Georg Kreisler

// Rezension von Andrea Grill

„Zufällig“ so gute Gedichte schreiben, kann nur einer wie er. Einer, der schon lange Dichter war, bevor es bemerkt wurde. Georg Kreisler ist eher als Chansonnier oder Kabarettist bekannt denn als Schriftsteller. Welches Kaliber er hat, zeigt sein jüngstes Buch, ein Lyrikband, der auch drei Essays umfasst. Der Hölderlin-Preis der Stadt Homburg, den er am 6. Juni 2010 – kurz vor seinem achtundachtzigsten Geburtstag – verliehen bekommt, gebührt ihm allemal.

„Ich weiß nicht, was mich bewog, Gedichte zu schreiben, vielleicht das Wetter.“, lautet Kreislers überzeugendes Understatement. Was immer ihn bewogen hat, seine Gedichte bewegen den Leser. Sei es, wenn ein Reh auf eine Lichtung tritt, „dann trittst du unwillkürlich mit“. Sogar falls sich herausstellt, dass das Reh womöglich keins ist, denn „in einem halbwegs guten Gedicht ist alles wahr, auch das Gegenteil.“ Machen Sie sich keine Sorgen, Kreisler nimmt Sie an der Hand. Er weiß, ein Gedicht wird nicht vom Publikum gelesen, sondern von einzelnen Menschen. Mit jedem Satz sucht er nach der Wahrheit, mit jedem Vers nach dem, was er sagen will.
„Die Wahrheit soll ein Abgrund sein./Leider springt kein Mensch hinein./Er weiß, wer eine Wahrheit sieht,/fällt tot in Ohnmacht und entflieht.“

Schon bei den Liedern, mit denen Kreisler bekannt wurde, spielte der Text die Musik. Das Klavier verpackte die Worte so, dass einem ihre Bedeutung wie von selber ins Ohr schlüpfte. Die vorliegende Sammlung übertrifft die berühmten Lieder aus den 50er Jahren (wie „Taubenvergiften im Park“) fast noch an Vielschichtigkeit. Man kann einem Autor nur gratulieren, der die Dichtheit seiner Sprache bis ins hohe Alter zu konzentrieren weiß. „Das Wort ist die größte Sünde,/da müssen Sie vorsichtig sein./Ja, alles hat seine Gründe/und seinen Gesangsverein.“

Kreislers Gedichte sind Pluralwesen, jedes für sich eine Persönlichkeit. Sie treten als Regisseur auf, als alte Tanten, als Tausendsassa, Heimatloser und ja, auch als Pessimist, können Freunde sein, eine Maschine, oder gar die ganze Kunst. In jedem Fall bleiben sie Ich, ganz Privat. „Es ist kein großer Unterschied zwischen Gedichten und Menschen, aber vielleicht fällt das nur mir auf. Andere können einwenden, dass Gedichte nicht auf Diät gehen oder die Fahrprüfung machen, aber andererseits gibt es männliche und weibliche Gedichte, und nur die weiblichen können Kinder kriegen.“ Sie ähneln ihrem Schöpfer, wie sich’s gehört. Sie nehmen keine Rücksicht auf Moden und kommen geschneidert daher – nach dem Maß des Dichters. Reime sind erlaubt und mehr als das. Sie müssen sich nicht verschämt irgendwo mitten in der Zeile herumdrücken, chamäleonartig im Schatten sitzen, um erst viel weiter unten einen Gleichklang zu finden, nein, fröhlich und klar, wie Hüte und spitze Schuhe, geben sie die Kontur. Wenn das der Einfluss des Amerikanischen ist – Kreisler lebte von 1938 bis 1955 in Hollywood und New York – so hat er sich das Beste angeeignet.

Kreislers Figuren werden von dem Zufall umhergetrieben, der das Leben ist. Das Pech lauert überall, zum Beispiel in Form eines Menschenpräsidenten oder eines kritischen Moments, der alle Menschen in ein Zimmer bündelt. Ehrgeizig sind diese Gestalten nicht und doch vertraut man darauf, dass sie einen Ausweg finden. Dem kritischen Moment könnte ja beim Anblick der Erde derart grausen, dass er auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Man verzweifelt hoffnungsvoll. „Meine Welt ist überall./Gott sei Dank, sie ist misslungen./Seinerzeit mit lautem Knall,/ist sie mir vom Leib gesprungen.“

Sprachlich überlässt der Autor nichts dem Zufall. Abstrakte Begriffe wie die „Zukunft“ knetet er zu greifbaren Dingen, die man aufklauben kann, betrachten und irgendwo anders hinlegen. Wo seine Gedichte in wenigen Zeilen ganze Lebenswege entwerfen, sind sie so liebenswürdig, dass man sie in den Arm nehmen und gar nicht mehr gehen lassen möchte. „Wenn ich nicht ich wär, möchte ich du sein,/säß dir im Hirn und wäre gescheit./Wenn ich ein Tier wär, könnt ich ein Gnu sein,/spränge zu dir und täte dir leid.“ Leider hat die Angebetete in „Die Liebe“, eben weil sie du ist, schon einen Gunther. Der Erzähler sieht schwarz und beschließt, sich gleichzeitig zu erstechen und aufzuhängen.

Kaum etwas wirkt ausgedacht, das ist das Besondere bei Kreisler. Er ist ein Intellektueller, der sich den Zugang zu seinem Kinder-Ich erhalten hat. Kinder wären gute Dichter, wenn sie keine Kinder wären, schreibt er. Wieder einmal hat er recht, wie auch in seiner Autobiographie, wo es heißt, „Kein künstlerisches Werk darf sich sein Ende als Ziel setzen. (…) Wer sich ein Ziel setzt, wird nervös.“

Georg Kreisler Zufällig in St. Francisco
Unbeabsichtigte Gedichte.
Berlin: Verbrecher Verlag, 2010.
120 S.; geb.
ISBN 978-3-940426-46-8.

Rezension vom 25.05.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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