#Roman

Zuber

Josef Oberhollenzer

// Rezension von Beatrice Simonsen

oder Was werden wir uns zu erzählen haben.

Wie unter tiefen Erdschichten ist die Erinnerung versteckt, die der „Kindheitsarchäologe“ Vitus Sülzrather Schritt für Schritt freilegt. Die Kunstfigur „Sülzrather“ erfand Josef Oberhollenzer bereits für seinen letzten gleichnamigen Roman 2018, der vom „vergessenen“ querschnittsgelähmten Dichter vom Kalberhof in Aibeln berichtet – einem fiktiven Ort in Oberhollenzers Heimat Südtirol. „Aibeln, heißt es, liege abseits der geschichte, die es zu erzählen gibt; da sei kaum etwas, nein, da sei jahrhunderte nichts geschehn, was einem im gedächtnis geblieben sei und was einem andern als einem solchen zu erzählen gewesen wär: […]“ (S. 11). Tot wie das Kind Zuber ist die Geschichte von Aibeln, der Sülzrather sich widmen wird, und am Ende wissen wir, dass sie doch erzählenswert ist.

Bevor der Archäologe sein Ziel erreicht, gilt es behutsam an die Sache heranzugehen. Er gräbt hier und gräbt dort und findet dies und das. Die Helfer sind an seiner Seite und suchen und schürfen, um schließlich vor den Ruinen der Vergangenheit, aus denen sie lernen und ihre Schlüsse ziehen, zu stehen. So in etwa geht es denjenigen, die Sülzrather auf seiner Reise in die Vergangenheit begleiten. Eine komplizierte Erzählweise nach dem Stille Post-Verfahren rüttelt an den Erdschichten und bringt sie bedächtig in Bewegung: „[…] habe der Vitus zu erzählen begonnen, habe Max Vergeiner gesagt, sagt F. […]“ (S. 80). Die handelnden Personen werden dem Roman im Vorspann erklärt, was ihre Zu- und Einordnung erleichtert. Nur F. bleibt im Gegensatz zu Familienmitgliedern und Freunden Vitus Sülzrathers anonym.

Josef Oberhollenzer strukturiert seinen Roman in vier große Abschnitte. Quasi als Prolog fungiert der erste, der den Mordanschlag auf drei italienische Karabinieri im realen Südtiroler Thinnetal am 29. April 1929 und die darauffolgende grausame Drangsalierung und Verhaftung der deutschen Dorfbewohner durch die faschistische „Behörde“ zum Inhalt hat. Eine Tatsache, die den schwelenden deutsch-italienischen Konflikt seit der Annexion Südtirols durch Italien widerspiegelt.

Im zweiten Abschnitt begegnet uns „die Jaist Kreszenz vom Blaaserhof“, die F. das von Vitus Gehörte „nacherzählt“. Über sie bekommen wir einen Einblick in das Leben am Sülzrather Kalberhof, wo der gut zwanzig Jahre ältere Vitus in den 1970er Jahren seiner jungen Geliebten von seiner Kindheit erzählte. Der Titel dieses Abschnitts „die kindheit ein paradies“ erweist sich, wie man bald erfährt, als „chimäre“.

Im dritten Abschnitt dann – „Die geschichte vom Kajetan dem zellhaufen“ – bricht endlich das Erzählen aus Vitus’ Mutter hervor, das angesichts des lebensbedrohlichen Unfalls ihres Sohnes, als dieser 1959 vom Baugerüst stürzt, die Geschehnisse um die Tötung der Karabinieri wieder aufgreift. Diesmal ist es der Freund Max Vergeiner, der das Erzählen der Mutter und des Vitus an F. weitergibt. Drei Tage lang erzählt die Mutter im Brixner Spital von der Verhaftung des Vaters und vom totgeborenen Kind Kajetan, dem Vitus den Namen „Zuber“ gibt. Dann erst beginnt Vitus Sülzrather sich der Geschichte zu stellen, die Überlagerungen abzutragen und das Schweigen in Aibeln zu brechen. „Dem sei nichts hinzuzufügen“ ist ein letzter kurzer Abschnitt, ein visionärer Traum, ein Ausklang der Erschöpfung, die auf das Erzählte folgt.

Die Erzählweise, die mehrere Vermittler zwischen den eigentlichen Erzähler Vitus Sülzrather und die Leserschaft schiebt, irritiert wohl mit Absicht von Beginn an. Sie und zahlreiche Fußnoten, die erheblichen Raum einnehmen und ebenfalls gelesen werden wollen, widersetzen sich dem bequemen Lesefluss. Reale und fiktive Literaturzitate ebenso wie eine aus dem Haupterzählstrang eliminierte Fabulierlust finden sich in diesen kleingedruckten Anmerkungen, die wild wuchernd das Erzählen begleiten. Vergleichbar mit der angesprochenen archäologischen Grabung fügen sich erst nach akribischer Zusammenführung der vielen Puzzleteilchen der Geschichte die Fundstücke zu einem ganzen Bild zusammen.

Die schier endlos mäandrierenden, kunstvoll gedrechselten Sätze in konsequenter Kleinschreibung (bis auf Namen und Orte) sind nach wie vor stilistisches Merkmal des Autors. Hinzu kommen zahlreiche Musikzitate, besonders in Augenblicken, in denen das Erzählen unmöglich wird. Der Autor lässt uns lange Zeit, uns ganz auf die Umstände am Südtiroler Kalberhof einzustellen, bevor wir auf den Kern der Kindheitsarchäologie Sülzrathers stoßen: Es ist die Abschrift von Vitus’ Vater von „Folterbriefen“, die er selbst erst spät entdeckt. Hierin finden sich Berichte ehemaliger unschuldiger Kerkerhäftlinge, die von dem erzählen, worüber der Vater selbst zu niemandem sprechen konnte. Ähnlich wie ehemalige KZ-Opfer versank er in Schweigen. In seinem Roman demonstriert Josef Oberhollenzer die ungeheure Anstrengung, die es braucht, um dieses Schweigen zu brechen – und greift außerdem das Thema willkürlicher Staatsgewalt auf, die weltweit in Abstufungen stets präsent ist.

Josef Oberhollenzer Zuber
Roman.
Wien, Bozen: Folio, 2020.
213 S.; geb.
ISBN 978-3-85256-818-8.

Rezension vom 01.09.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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