Als blutroter Faden führt darin der gerade beginnende und bald schon nicht enden wollende Irakkrieg durch ein kunstvoll erdachtes Labyrinth von tagebuchartigen Notizen, Lektüreberichten, Reportagen, Glossen, kurzen Essays und Aphorismen, dessen Bauplan anstelle von Sackgassen Verbindungstunnel vorsieht, die sich überraschend und an unerwarteten Stellen auftun. Diese können von Montesquieu über Big Brother, Vandalismus und Jörg Haider direkt zur Ekel-Show führen, und von dort über die einst allgegenwärtige Kaiserloge wieder zurück zu Montesquieu und dessen Erkenntnis, dass „jeder, der Macht hat, ihrem Mißbrauch geneigt ist: er geht so weit, bis er auf Schranken stößt.“ „Ob’s zusammengehört?“ fragt sich Karl-Markus Gauß im Gegensatz zu seinem berühmten Vorbild schon zu Beginn des Kapitels, doch die Frage ist natürlich rhetorisch. Unter dem Blickwinkel des Autors, der kein Zu- sondern ein Hinschauer sein will, gehört das alles eindeutig und überzeugend zusammen. So wie auch Alf Poiers „Ich bin gerne dumm“, Bushs Rechtfertigung der Todesstrafe und der tödliche Ausgang eines Wettkampfs in einem Salzburger Landgasthaus, dessen Sieger zwar am schnellsten mit einem Sturzhelm auf dem Kopf gegen die Wand donnerte, sich dadurch aber nicht das erhoffte Freibier, sondern nur einen tragikomischen Freitod sicherte.
Zwischen zwei Gedankensprüngen bringt Gauß einmal komplizierte Sachverhalte auf verblüffend einfache Formeln – „Wie es einst Europa mit den Amerikanern ergangen ist, so ergeht es nach zwei Generationen der Amerikanisierung jetzt Amerika mit den Europäern: Die Erfindung sucht sich von ihrem Erfinder zu emanzipieren.“ -, dann wieder wird ihm scheinbar Bekanntes plötzlich fremd, zur „interessante[n] Kunde aus einer fremden Zeit, die unsere ist, aus einem fernen Land, das ganz nahe liegt.“ Ein Beispiel dafür ist die Groteske um eine Pim-Fortuyn-Statue, die beim Transport irrtümlich geköpft und bei ihrer Enthüllung von aufgebrachten Muslimen mit Coladosen beworfen wurde, die sich durch die Erinnerung an einen Politiker, der nicht nur rechtsextrem, sondern auch noch homosexuell war, diskriminiert fühlten.
Dass es Karl-Markus Gauß ablehnt, zum „eigenen Nutzen belogen, des richtigen Ziels wegen getäuscht und um der Freiheit willen beherrscht“ zu werden, macht seine Aufzeichnungen auch zu einer Liebeserklärung an die Sprache in Zeiten des Krieges gegen den Terror. Immer wieder greift er einzelne Sätze aus dem Phrasen- und Propagandasumpf, prangert „Sprachschändung“ an, da es von der sprachlichen zur menschlichen Verrohung nur ein kleiner Schritt ist. Dass österreichische Juristen im bedenklichen Umgang mit Sprache den Kollegen von der amerikanischen Kriegspropaganda um nichts nachstehen, überrascht dabei leider nicht. So berichtet Gauß von der abgewiesenen Klage der Familie eines unbescholtenen, von der Polizei getöteten Bürgers. Ein Beamter hatte den Mann mit einem Drogendealer verwechselt und den vermeintlichen Verbrecher bei der Verhaftung „irrtümlich“ erschossen. Der Gebrauch der Dienstwaffe sei laut Urteil jedoch „nicht überschießend“ gewesen.
Inneren Zusammenhalt gibt dem Gaußschen Journal neben dem Irakkrieg und der Sorge um die Sprache auch ein mehrfaches Lob des Scheiterns – in Zeiten der hemmungslosen Selbstvermarktung ein so ungewöhnliches wie wohltuendes Unterfangen. Auch Gescheiterte können Vorbilder sein, wie Montesquieu, der an seinem Schreibprojekt scheitert wie der manische Tagebuchschreiber Henri-Frédéric Amiel, oder der eigene Vater, der kurz vor der Pensionierung von den Eigentümern der Zeitung, die er selbst gegründet hatte, als Chefredakteur gefeuert und somit um sein Lebenswerk gebracht wurde.
Es ist beeindruckend, mit welcher Eleganz Karl-Markus Gauß es versteht, Weltpolitik mit Literatur, seinem eigenen Leben und seiner Familiengeschichte in Bezug zu setzen. Sein geistvoll widerspenstiges Denken erweist sich darüberhinaus dort als besonders fruchtbar, wo er falsche Alternativen als solche benennt und es verweigert, sich diese aufzwingen zu lassen. Das kann bereits im kleinen österreichischen Rahmen wohltuend sein. Wer erinnert sich noch an die Skulptur einer in den eigenen Mund urinierenden männlichen Figur, die eine Künstlergruppe zu Festspielzeiten in Salzburg aufstellte? Der Skandal verlief erwartungsgemäß, die einen verteidigten die Freiheit der Kunst, die anderen die guten Sitten – nur Gauß weigert sich, am Streit um ein „Brunzmandl“ teilzunehmen, bei dem die Kontrahenten „stets am selben Knochen“ kauen, „nur daß es dem einen schmeckt und es dem anderen graust.“ Die Gaußsche Denkfigur bewährt sich auch im globalen Maßstab. Der Autor tappt beispielsweise nicht in die rhetorische Falle, die die US-Regierung der Weltöffentlichkeit gestellt hat, nämlich „für diesen verlogenen Krieg, der als gefährliches Exempel einer neuen Weltordnung konzipiert ist, oder für das verkommene Regime Saddams zu sein. Was bleibt, was bleibt mir? Nichts, als aufzuzeigen, daß die Alternative falsch ist und daß, indem wir uns zwischen den beiden Möglichkeiten entscheiden sollen, ein ungeheurer Zwang über die Welt verhängt wird.“ Die Kritik an den falschen Alternativen wird zum archimedischen Punkt, von dem aus sich so manches lästige, typisch österreichische oder auch globale Problem aus den Angeln heben lässt.
„Seine Zeit überlebt nur, was nicht für die Ewigkeit gedacht war, sondern für seine Zeit. Über den Ort hinaus bleibt nur verständlich, wer auf diesen Ort, auf einen Ort bezogen war“, schreibt Karl-Markus Gauß. Auf sein eigenes Buch übertragen bedeutet der Satz nichts anderes, als dass „Zu früh, zu spät“ trotz seines Titels noch lang über die Saison hinaus Gültigkeit besitzen wird. Ein einziges Manko hat der Band: Ihm fehlt ein Bändchen. Mit einem solchen ließen sich die zahlreichen Stellen leichter einmerken, an denen man die Lektüre von „Zu früh zu spät“ zum Nach- und Weiterdenken immer wieder unterbricht. Das häufig zu hörende Lob, man habe ein Buch in einem Zug durchgelesen, wäre für Gauß‘ Aufzeichnungen, die zu einem stummen Gespräch einladen, wie es anregender nicht sein könnte, nämlich das denkbar falsche.