Der Klappentext wirbt mit einigen als „grundlegend“ ausgewiesenen Fragen: „Warum wurde der Holocaust erst Jahrzehnte nach 1945 als das Zentralereignis des 20. Jahrhunderts wahrgenommen? Auf welchem Weg ist das – zunächst vornehmlich auf die Gedächtnisgemeinschaft der Opfer beschränkte – Gedenken an die jüdischen Opfer der NS-Verfolgung nun zu einem universalisierbaren Phänomen geworden? Und welche Konsequenzen für die Interpretation des Holocaust hat seine nunmehrige Präsenz im Gedächtnis?“ In wessen notwendigerweise akteurInnengebundenem Gedächtnis sich das Gedenken an die jüdischen Opfer der NS-Verfolgung präsentiere, wird an dieser Stelle nicht näher bestimmt, doch lässt das Publikationsunternehmen seine Nähe zum Konzept eines „kosmopolitischen Gedächtnisses“, formuliert von Daniel Levy und Natan Sznaider (Erinnerung im globalen Zeitalter, 2001), unschwer erkennen.
Die ebenfalls auf der Rückseite des Buches vermerkten zentralen Thesen, gleichsam als normative Folie den drei genannten Fragen wie auch deren Beantwortungsversuchen in den einzelnen Beiträgen unterlegt, verstärken diesen Querverweis; die Rede ist vom „Zivilisationsbruch Auschwitz“, der „in das Zentrum der Gedächtniskultur vieler europäischer und außereuropäischer Länder“ rücke, vom „Holocaust als ein[em] transnationale[n] Gedächtnisort von globaler Relevanz“, zum Ausdruck gebracht in den „Transformationen des kollektiven Gedächtnisses seit 1945“. Die referierte Problematik indiziert das spezifische Forschungs- und Erkenntnisinteresse einer interdisziplinären, als geschichtsphilosophisch, diskursanalytisch bzw. hegemonietheoretisch, historisch, kulturwissenschaftlich, psychoanalytisch und literaturwissenschaftlich ausgewiesenen Beschäftigung mit dem „Paradigmenwechsel in der gesellschaftlichen Erinnerung“, getragen von der „Relevanz des Holocaust als historische[m] Bezugspunkt eines ‚Weltgedächtnisses'“.
Wohl wäre – mit Blick auf die subtile Titelmodifikation für den Sammelband und mit Bedacht darauf, wie sehr Metapher, Metonymie und Synekdoche unsere Vorstellungswelt strukturieren und in mittelbarer Weise unser Handeln bestimmen – bedenkenswert, mit welchen sprachlichen Anstrengungen die titelgebende Instanz zu Werke ging: Die hypostasierende, generalisierende Zusammenfassung eines Jahrhunderts in der Erinnerung des nächsten wurde für die vorliegende Unternehmung vermittels der Schlüsselwörter „Zivilisationsbruch“ und „Gedächtniskultur“ kodiert. Die Änderung der noch im Tagungstitel enthaltenen, postmodern anmutenden „-brüche“ hin zum singulären „Zivilisationsbruch“ verdankt sich nicht zuletzt der engagierten Diskussion, die das Referat von Oliver Marchart auf der Wiener Tagung entfachte. Erfreulicherweise wird mit den Beiträgen von Dan Diner und Oliver Marchart auf sehr unterschiedliche Weise der „unerlässlichen“ „Arbeit am Begriff“ (S. 37) Rechnung getragen.
Ein Blick auf das thematische Spektrum des Sammelbandes lässt jedoch die analytische bzw. systematische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Gedächtniskultur“ vermissen. Die einleitenden Worte der Herausgeberin vermögen dem diesbezüglichen Wunsch nach einer zumindest im Rahmen des Sammelbandes geklärten Verwendungsweise kaum entgegenzukommen, womit an dieser Stelle ein allgemein gehaltener Kritikpunkt zur Sprache gebracht wäre: Die scheinbare Willkür, mit welcher der Begriff „Gedächtniskultur“ vom (titelgebenden) Singular in unscharfe Pluralformen „transformiert“ wird, mithin von den „Gedächtniskulturen europäischer Länder“ und den „Gedächtniskulturen der Opfer und Täter“, von „der öffentlichen Erinnerungskultur“ und „der Erinnerungskultur“ schlechthin, das heißt von „Gedächtnis“ und „Erinnerung“, „Kultur“ und „Kulturen“ quasisynonym die Rede geht, ist einer präzisen, theoretisch fundierten Ausformulierung kulturwissenschaftlicher Gedächtnisforschung wenig zuträglich. Was macht also, fragt die aufmerksame Leserin, eine „Erinnerungskultur“ aus, um von solchen lokalen, nationalen oder gar kosmopolitischen Kulturen sprechen zu können?
Ungeachtet dieser kritischen Anmerkungen ist die vorliegende Unternehmung in vieler Hinsicht sehr verdienstvoll. Für die Beantwortung der kompakten Aufgabenstellung zeichnet ein internationales Ensemble von Autorinnen und Autoren verantwortlich. Die nach keinem ersichtlichen Ordnungsprinzip gereihten Beiträge ließen sich nach der theoretischen Zugangsweise (Dan Dinner, Oliver Marchart), medialen Repräsentationsformen (Cornelia Brink, Brigitte Straubinger, Heidemarie Uhl) sowie den zwei thematischen Schwerpunkten, „Generationen“ (Norbert Frei, Elisabeth Brainin, und das AutorInnenkollektiv Ines Garnitschnig, Stephanie Kiessling, Alexander Pollak) und „Orte der Erinnerung“ (Rudolf Jaworski, Tomasz Szarota, Éva Kovács), bündeln.
Für die Publikation kommt Dan Diner der Aufforderung nach, den Entstehungszusammenhang des von ihm geprägten Wortes „Zivilisationsbruch“ zu skizzieren. Diners Kritik an anthropologischen Interpretationen der „vornehmlich von Juden erlittene[n] Negativität“ (S. 17), denen er „eine historische Perspektive“ (ebd.) gegenüberstellt, wird ergänzt durch einen detailreich kommentierten Anmerkungsapparat. Sein Unmut gilt „einer sich ausbildenden zweifelhaften internationalen Moralkultur“. Den „Motor einer solchen Inflationierung“ sieht Diner in der auf „entgrenzende Universalisierung zielende[n] anthropologische[n] Deutung des Zivilisationsbruchs“ (S. 28). Die „geradezu methodische Vermeidung von ‚Auschwitz'“ erfolge nur scheinbar paradox durch die ständige Evokation des für weitere Massenverbrechen exemplarischen Holocaust (ebd.).
Ebenfalls um das Phänomen der „globalen Universalisierung der Holocausterinnerung“ (S. 51) bzw. um eine präzise theoretische Differenzierung von Universalität, Singularität und Partikularität des „Zivilisationsbruchs Auschwitz“ geht es in dem diskursanalytischen Beitrag von Oliver Marchart, denn – so Marchart – immer unbedarfter werde der Mord an europäischen Juden mit anderen Genoziden gleichgesetzt oder zumindest verglichen (S. 35). Marcharts hegemonietheoretische Auseinandersetzung, in gedanklicher Nähe zu den politischen Überlegungen von Ernesto Laclau angesiedelt, enthält die gewichtige Aussage, „dass der Holocaust außerhalb der atlantischen Welt eine wesentlich geringere Rolle spiele als die Geschichte des europäischen Imperialismus und Kolonialismus“ (S. 54). Dieser Erkenntnis ist eine fundierte Kritik an dem erwähnten Buch von Levy und Sznaider unterlegt, in der Marchart die Levy/Sznaider’sche Interpretation einer „Universalisierung qua Mediatisierung des Holocaust“ als „Depolitisierung des Erinnerungsmodells“ entlarvt (S. 55).
Wohl unnötig darauf hinzuweisen, dass „Globalisierung“ keinesfalls mit „Universalisierung“ gleichzusetzen sei, dass Levy und Sznaider von einem „kosmopolitischen Gedächtnis“ und seinen „globalen Repräsentationen“, von der „Kosmopolitisierung der Holocausterinnerung“ und etwa der „‚Universalisierung‘ des Bösen“ sprechen, so sind doch Marcharts kritische Ausführungen dazu angetan, eine ungenaue und bislang unhinterfragt gebliebene Übernahme der Argumentation von Levy und Sznaider mit dem Trugschluss der voreiligen Generalisierung zu konfrontieren.
Mit den Beiträgen von Norbert Frei („Deutsche Lernprozesse“), Elisabeth Brainin („Gibt es eine transgenerationelle Transmission von Traumata?“) und des AutorInnenkollektivs Ines Garnitschnig, Stephanie Kiessling und Alexander Pollak („Wehrmacht und Nationalsozialismus im Geschichtsbewusstsein von jugendlichen BesucherInnen der Ausstellung […]“) wurde versucht, der Problematik der unterschiedlichen Geschichtserfahrungen und Erinnerungsformen von nationalsozialistischer Vergangenheit sowie ihren generationsbedingten Zu- und Umgangsweisen gerecht zu werden. Von einer historischen Warte aus hält Norbert Frei vier Phasen des Umgangs mit NS-Vergangenheit fest: die „Phase der politischen Säuberung“, die „Phase der Vergangenheitspolitik“, die „Phase der Vergangenheitsbewältigung“, schließlich die „Phase der Vergangenheitsbewahrung“ (S. 89). Eine analytisch distanzierte Beschreibung der vierten, bis in die Gegenwart reichenden Phase falle naturgemäß – so Frei – nicht leicht: „Vor dem Hintergrund des sich vollziehenden Abschieds von den Zeitgenossen der NS-Zeit geht es inzwischen weniger um die praktische Bewältigung benennbarer politischer Folgen der Vergangenheit […]. Zunehmend in den Mittelpunkt gerät allerdings vielmehr die Frage, welche Erinnerung an diese Vergangenheit künftig bewahrt werden soll“ (S. 99). Ebenso „naturgemäß“, um nicht zu sagen generationsbedingt, endet Freis prospektive Einschätzung mit dem Siegel der Ungewissheit, „ob und wie sich die ‚deutschen Lernprozesse‘ aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Zukunft der nächsten Generation hinein bewahren und entwickeln lassen“ (S. 100).
Die differenzierte Auseinandersetzung von Cornelia Brink mit „Kontinuitäten und Transformationen fotografischer Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen“ (S. 67) zählt neben den erkenntnistheoretischen Aufsätzen von Diner und Marchart zu den anspruchsvollsten des Sammelbandes. Für Brink wird die „Geschichte der visuellen Darstellung von NS-Verbrechen“ als „Geschichte einer Suche nach Fotografien“ (ebd.) lesbar. Anhand dreier „Thematisierungskonjunkturen“, im Jahr 1945, von 1960 bis 1965 und seit 1995, verdeutlicht Brink ihre These vom kontextgebundenen Eigenleben der Fotografien – „Der Status einzelner Fotos oder auch fotografischer Motive im kulturellen Gedächtnis hat sich während der vergangenen fünfzig Jahre geändert: vom Beweis zum Symbol, vom Konkreten zum Metaphorischen und auch wieder umgekehrt vom Metaphorischen zum Konkreten […]“ (S. 76).
Einen diffusen Eindruck hinterlässt hingegen die Lektüre des Beitrags von Brigitte Straubinger über „Erinnerung modo austriaco – zu Gerhard Fritschs ‚Österreich-Roman‘ Moos auf den Steinen.“ Dem Fachpublikum bieten die allzu verkürzte Darstellung der kulturpolitischen Situation in Österreich nach 1945 sowie die hinsichtlich ihrer Motivation über weite Strecken unklar bleibenden Ausführungen Straubingers „Zum Umgang mit der NS-Zeit in der Literatur der Nachkriegszeit“ nichts Neues. Einem literarhistorisch ambitionierten Publikum haben ExpertInnen das für eine österreichische Literaturgeschichte bedeutende Werk- und Wirkgefüge des Autors Gerhard Fritsch längst schon präzise näher gebracht.
Für Heidemarie Uhl ist die Ausstrahlung der amerikanischen TV-Serie „Holocaust“ im Jahr 1979 Exempel einer „gewissermaßen externen Intervention in die diskursive Ordnung des österreichischen Gedächtnisses“ (S. 154), sie hat die „Holocaust“-Rezeption innerhalb eines „nationalen Kommunikationsraum[s]“ (ebd.) detailreich recherchiert und aufbereitet. Uhls erinnerungstheoretische Überlegungen zu den „Transformationen des österreichischen Gedächtnisses“ (S. 153) werden durch drei weitere Beiträge über „Verschiebungen des Gedächtnisses im zentral- beziehungsweise osteuropäischen Raum“ (S. 12) ergänzt, was eine komparatistische Lesart der eingangs unter dem thematischen Schwerpunkt „Orte der Erinnerung“ benannten Sektion ermöglicht. Diese wird von Rudolf Jaworski („Umstrittene Gedächtnisorte in Ostmitteleuropa“), Tomasz Szarota („Orte der Verbrechen und Massenmorde der Jahre 1939-1945 […]“ am Beispiel Polen) und Éva Kovács verantwortet. Letztere stellt einen „konsensuellen lieu de mémoire der Shoa in Ungarn“ in Frage (S. 209).
Eine nachträgliche Verständigung der TagungsteilnehmerInnen über die Bedeutung und legitime Verwendung der zu Leitbegriffen erhobenen Komposita „Zivilisationsbruch“ und/oder „-brüche“, „Gedächtnis-“ und/oder „Erinnerungskultur“ sowie über die „Universalisierung“ und/oder „Globalisierung der Erinnerung“ scheint es nicht gegeben zu haben; eine Fortsetzung der Diskussion wäre wünschenswert. Sowohl die zentralen Thesen – allen voran die einmal fragend, einmal als Selbstverständlichkeit, wenngleich (noch) in Anführungszeichen gesetzte Rede vom „globalen“ oder „Weltgedächtnis“ – als auch deren affirmative bis kritische Aufnahme in den einzelnen Beiträgen sollten doch zu einigen grundsätzlichen Überlegungen hinsichtlich methodischer Stringenz, theoretischer Konzepte und Metasprache einer sich mitunter historisch, zumeist kulturwissenschaftlich deklarierenden, jedenfalls interdisziplinären Unternehmung „Gedächtnisforschung“ veranlassen.