#Roman

Zerstörung

Gerald Lind

// Rezension von Usha Reber

Zerstörung von Gerald Lind erschien im Mai 2013 im Berliner Neofelis-Verlag. Laut Klappentext handelt es sich hier um ein „als wissenschaftlicher Schauerroman getarntes avantgardistisches Schreibexperiment“. Solch eine Charakterisierung erweckt große Erwartungen – die in meinem Fall jedoch enttäuscht wurden.

Stimmt schon, Gerald Lind vermeidet das „klassische Erzählen“ wie der Teufel das Weihwasser; stimmt auch, dass die pragmatischen Kapitelüberschriften, die nüchterne Einteilungen in Vorreden, Nebenreden, Zwischenreden, Bonusreden und Hauptreden vornehmen, verbrämt mit ein paar Paratexten, die eigene Wiederbelebung antiker Denktradition aus der Rhetorik versprechen. Allerdings wird dieses Versprechen nicht eingehalten, allenfalls zeigt sich das Scheitern der sophistischen, akademischen oder dialektischen, der eulogischen Rede oder der Diatribe.
Was bleibt, ist ein Sammelsurium an fiktiven Versatzstücken sekundärer Schreibweisen, deren Zusammenstellung eine Kritik der gesamten Literaturökonomie nahelegen, letztlich aber schuldig bleiben.

Bildungsmarkt: weder Analyse noch Kritik

Alle „Reden“ zeichnen Stationen des Bildungsmarkts nach, alle umkreisen aus der Distanz der methodischen Annäherung einen verschwiegenen erzählenden Text sowie Inhalte und Stoßrichtungen voriger „Reden“. Gleichzeitig wird eine geistes-/kulturwissenschaftliche und/oder eine Vermarktungsstrategie einer kulturgesättigten und von „lebenslanger Bildung“ beherrschten Gesellschaft „anzitiert“. Ein großer Teil der Neben- und Bonusreden, die Hauptreden ausschließlich, führen anscheinend einen internen Krieg gegen diverse Methoden, Ideologien und Moden der akademischen Forschung. Im Gewand „wissenschaftlicher“ Texte werden Fragestellungen der humanities vorgeführt, darunter biografisch-soziologische Forschungen ebenso wie Narratologie, Alteritätsforschung, Dekonstruktion, Imagologie et al. Gerald Lind vergisst fast keine Strömung der vergangenen zehn bis fünfzehn Jahre, die er nicht namentlich oder mit Schlagworten und Begrifflichkeiten nennen würde. Zu erwarten wäre in diesem Zusammenhang im besten Fall eine Kritik der Vermarktung kritischer Haltungen durch den akademischen Betrieb, im schlechtesten Fall ein Einstimmen in allgegenwärtiges Ressentiment gegenüber geistes-, kultur- und kunstwissenschaftlicher Betätigung überhaupt. Eine solche Kritik suchte ich allerdings vergeblich. Die Hauptreden, jene Auszüge aus fiktiven Studienarbeiten, zeichnen allein die Verpackung und Verwertung, das Recycling und Upcycling von Methodenversatzstücken aus den unterschiedlichsten Bereichen der humanities nach und verschweigen dabei nicht, dass dieser Fabrikproduktion an methodischen Klimmzügen ein anderes Publikum als jenes der GutachterInnen verweigert bleibt. Gut möglich, dass sich dieses Schicksal auch innerhalb von Zerstörung wiederholt.

Literaturmarkt: Perspektivlosigkeit

Zu beschwören, dass bemerkenswerte Literatur geschaffen worden sei, überführt diese noch längst nicht in die Realität. In verschiedenen Neben- und Zwischenreden bemühen sich Literaturkritiker-, Kulturphilosophen- und Journalisten-Personae redlich zu bewirken, dass über Zerstörung geredet wird. Im Gegensatz zu den peripheren Hauptreden, der Bachelorarbeit einer erfundenen Studentin und der Dissertation eines aufstrebenden jungen Wissenschafters, die das Avantgardistische, das Revolutionäre und das kritische Potenzial des Textes Zerstörung im Text Zerstörung des Autors Gerald Lind von Gerald Lind beschwören, gefallen sich die etablierten Figuren des Wissenschafts- und Literaturmarktes in der Diatribe. „Lind-Epigone“ wird zum ultimativen Schimpfwort in einem Katalog der Methoden- und Schulschmähung von Kulturpessimismus über Hegelianismus bis zu Poststrukturalismus. Auch eine Form der Superlativitis. In einer anderen Zwischenrede führen zwei Dichter (vielleicht handelt es sich aber auch um einen Dichter und seinen Verleger) hingegen vor, dass es „Jacke“ wie „Hose“ ist, bevor es nicht anständig vermarktet wird.
Unter dem Titel Rede & Gegenrede mit Gerald Lind findet sich auch das Autoreninterview, in dem kursiv gedruckt Schauriges in Linds Keller „gehörensagt“ wird. Dieses Teilstück kam mir zumindest relativ zentral vor, vielleicht, weil hier das einzige Teilstück vorliegt, das weitgehend kohärent-erzählend vorgeht und zugleich mit der Textsorte und seinem kulturökonomischen Stellenwert spielend leicht verfahrt – möglicherweise aber auch nur, da mich das Interview als Textsorte und Technik derzeit in anderem Zusammenhang selbst beschäftigt. Wie dem auch sei, der abschließende Satz der kursiven Paratexte zum aus dem Gedächtnis transkribierten Interview, in welchem die Gerald-Lind-Persona per SMS bestätigt, dass sie es „besser nicht hätte sagen können“ (S. 121), schafft es, ein augenzwinkerndes Einverständnis und das spielerisch-ironische Tauschverhältnis zwischen einem Autoren und seinem Kritiker Raum zu geben. Einer der wenigen versöhnlichen Räume.

Doppelungen

Gutachten und Musterrezensionen werden gleich mitgeliefert. All das dreht sich um einen Text, vorgeblich einen Roman namens Zerstörung von einem Steirer Gerald Lind, der sein curriculum vitae zu Gunsten der Suche nach einem Verlag amerikanisiert und aufgepeppt hat. Überhaupt scheint ein Lieblingsspiel jenes zu sein, mit Autorfiguren zu spielen, kulminierend hier:

Ich bin im Kopf von Gerald Lind, der im Kopf des Spielers Gerald Lind ist, der im Kopf des Avatars Gerald Lind ist (der eigentlich Niki de Saint Phalle sein müsste, aber noch gesichts- und namenlos ist) und sich im Metropolitan Museum befindet. (S. 95)

Ja, zu ergänzen wäre, dass alle sich zwischen zwei Buchdeckeln befinden. Prinzipiell ist das kein schlechter Ansatz, Doppelungsstrukturen zu Multiplikationsverwerfungen zu kombinieren, zahlreiche VorgängerInnen und zeitgenössische SchreiberInnen tun das mit Genuss und Erfolg. In Zerstörung werden nicht wenige davon genannt; der ein paar Mal zu oft bemühte David Foster Wallace ist nur einer von vielen. Solche Multiplikationen können jedoch nur Verwerfungen erzeugen, wenn sie einen Freiraum lassen, wenn Lücken gelassen werden, in denen Unausgesprochenes an Vermischungen, Kämpfen, Verknotungen, Ableitungen stattfinden können. Vermag Danielewski in House of Leaves, auf das ebenfalls Bezug genommen wird, sein Textgebäude tatsächlich (noch) größer zu machen, als es (schon) ist, trifft auf Linds sich verengenden Turmbau zu, was in einem inkludierten Absageschreiben ausgesprochen ist: An diesem Text „erstickt man“ (S. 123). Gerald Lind versucht, Freiräume mit Verneinungen zu schaffen, nicht ohne Reiz in der „Nachrede“, in der eine weitere, dreifache Ableitung des Autors zum erzählten Autor, der über einen befreundeten Autor redet, der in einem Zitat als wiederum erzähltes -AutorIndividuum zu Wort kommt (130ff.). Im Rahmen dieser Fiktion der Verlesung eines Hobby-Appendix eines Lebenslaufs lässt der Erzähler das Publikum wegen der durchgängigen Verneinungen positiver Aussagen in Wiederaufnahme des sogenannten „Klappentextes“ in Zerstörung den Verfasser dieses Hobby-Appendixes als „Plagiator“ beschimpfen, worauf der fiktive Lesende konstatiert, er habe kein Urheberrecht auf das Wort „nicht“ (S. 132). Ein Moment, das Witz hat. Jedoch ein Witz ohne Bestand, dafür ist die Übung im Verneinen zu penetrant, dafür sind die verneinten Tätigkeiten und Ereignisse zu konkret („Wenn ich nicht arbeite, unternehme ich ungern Städtereisen […] und spiele nicht gerne mit meiner Märklin-Modelleisenbahn, deren erste Lokomotive […] ich nicht zu meinem sechsten Geburtstag von meinen Eltern geschenkt bekommen habe[.]“ [130]), sodass eher der Eindruck einer stilistischen oder grammatikalischen Übung zu korrekten Verneinungen im Deutschen ohne Rücksicht auf den semantischen Verlauf der positiven Aussagen entsteht.

Witzlos

Bei der Vorführung der versammelten Rede-Weisen fehlt mir ebendiese Lücke, in der Verflechtungen von Sinn-Strukturen, gerade auch jene der Ironie, entstehen könnten. Vielleicht stellt sich ein gewisser Zynismus bei akademischen InsiderInnen bei der Lektüre der sogenannten Hauptreden ein, die sich in einem recht willkürlichen und schlecht begründeten Methodenpluralismus erschöpfen, der zu Assoziationismus verkommt. Allerdings auch hier: Verdoppelung ohne Lücke, auch hier ist alles dichte Oberfläche, nicht in Konkurrenz, sondern fast als Kopie beliebiger Kommentartätigkeiten.
Ähnlich schaut es mit den dramatischen Einsprengseln, den Gesprächen zwischen Kritikern, Herausgebern, außerordentlichen und ordentlichen, Junior- und/oder Tenure-Track-Professoren aus. Während Karl Kraus in Die letzten Tage der Menschheit im Wechselspiel von Montage und Fortführung es schaffte, genau jene Lücke, welche die absurde Verdopplung gebiert, aufzuspüren und (hier ergibt es Sinn:) nicht zu nennen, sondern als Maschine, die den Vervielfältigungsmoloch freisetzt, in Gang zu setzen, kombiniert Lind Topoi, die bestenfalls zur Hypostasierung führen („Du … […] … Lind-Epigone“, S. 99), aber die reale Absurdität weder unterminieren noch freilegen noch versöhnen.

Gerald Lind Zerstörung
Roman.
Berlin: Neofelis Verlag, 2013.
162 S.; brosch.
978-3-943414-17-.

 

Rezension vom 30.06.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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