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Zersplittertes Erinnern

Julian Schutting

// Rezension von Maria Steiner

Der neueste Roman von Julian Schutting handelt von einer österreichischen Kriegs- und Nachkriegskindheit. Der Erzähler, wie der Autor selbst 1937 geboren und wie dieser im ländlich geprägten Amstetten aufgewachsen, schildert die ersten sinnlichen und wahrnehmungsästhetischen Erfahrungen und Eindrücke seiner Generation. Es geht um das Sitzen auf der großmütterlichen Kohlenkiste, den Geruch von Eintopfgerichten, das Entsetzen angesichts eines halb zerbombten Wohnhauses: An einer noch stehenden tapezierten Zimmerwand hängt, völlig unversehrt, das Ölbild eines röhrenden Hirschen. Das Foto eines halb zerbombten Hauses ist auch das Motiv für den Schutzumschlag des schmalen Bandes. Fassungslos staunend stehen Passanten vor den Ruinen ihrer einst dicht bewohnten Straße, ein Uniformierter weist mit dem Zeigefinger in den ersten Stock: Hier wurde vor kurzem noch gelebt.

Trotz der verstörenden Erlebnisse und der schrecklichen Gewissheiten, die der Zweite Weltkrieg im Bewusstsein des Erzählers hinterlässt, wächst dieser, wie viele seiner Landsleute, in einer durch die Großfamilie geschützten Umgebung auf. „Das Lebensgefühl, dass alles von Tag zu Tag besser wird, bei Großtante Ida ausgekostet, sooft aus unbeheizbarem Untermietzimmer mit einer Bronchitis bei ihr eingezogen, von ihrer Fürsorglichkeit umhüllt, wohlgeborgen dagelegen.“ Die ersten Kindheitserinnerungen sind von Geschmacks- und Naturerlebnissen geprägt. Der Ich-Erzähler setzt Schnecken auf eine Glasscheibe, lässt sie um die Wette kriechen und züchtet Fische in einem nahegelegenen Ziehbrunnen. Im „hinterwäldlerischen Mostviertel“ sozialisiert, staunt das Kind bei seinem ersten Wienbesuch nicht schlecht über die vielen Ampeln, die den Straßenverkehr regeln. Den Vater hat eine glückliche Fügung für einen Wehrmachtsdienst abseits der Front bestimmt, er übersteht als Tierarzt den Krieg unverletzt in der Kavallerie und kann seinen Beruf danach weiter ausüben.

In Zersplittertes Erinnern spiegeln sich die Trümmer und Traumatisierungen, die der Zweite Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis hinterlassen hat. Nazisprüche von einst werden von Erkenntnissen und Einsichten von heute überlagert „Unseren streng gehaltenen Russen sind von der Kommandatura Wirtshausbesuche strikt untersagt, während in Linz zu junge Linzerinnen mit den Amis schon vormittags zu Negermusik in Silver Dollar Bars herumhocken, von diesen liederlichen Kaugummikauern mit Whiskey und amerikanisch parfümierten Zigaretten traktiert, welche, nur angeraucht aus den Jeeps geworfen, von demütig gebückten Linzern aufgelesen würden.“ Julian Schutting schildert die kulturelle Aufbruchsstimmung im Wien in der späten Nachkriegszeit, wie man sie aus vielen zeitgenössischen Erinnerungen kennt. Der Protagonist absolviert seine Lehre als Photograph, kommt mit damals neuer Kunst in Berührung und besucht regelmäßig die Oper. Er ernährt sich hauptsächlich von Leberkässemmeln, die zwar den Pferden todbringenden Unfällen zu danken, aber dennoch zu einem Luxussymbol für die längst überwundene Hungerszeit geworden sind.

„Haben in der Zwischenkriegszeit die damals noch mit kindlichem Gemüt gesegneten Wiener dem Nahen eines Eisstoßes von der Reichsbrücke zugejubelt wie noch nicht lange dem Herrn Hitler anderswo?“ fragt sich der Erzähler, und „hat es da nicht auch Österreich-Verherrlichungen gegeben, postaustrofaschistisch anmutende? (trotz allem damals lieber in amerikanische Kriegsfilme als in sowjetische Naturfilme gegangen)“.

Julian Schutting ist ein Buch voll zärtlicher Erinnerungen an vergangene Zeiten gelungen. Absolut lesenswert!

Zersplittertes Erinnern.
Roman.
Salzburg: Jung und Jung, 2016.
88 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-99027-091-2.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 13.10.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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