#Roman

Zehntelbrüder

Ruth Cerha

// Rezension von Spunk Seipel

Was ist eine Familie und was ist die eigene Familie? Wie setzt sie sich zusammen, wer gehört dazu und wer übernimmt welche Aufgabe, welche Rolle? Fragen, die für viele Menschen recht einfach zu beantworten sind und zu den fundamentalen Eckpfeilern der eigenen Identität gehören.

Doch der 24 jährige Mischa gerät in eine Krise, als seine Freundin ihn ihrer Familie vorstellen will. Denn er hat Angst vor der Frage, wer seine Eltern sind. Seine Familie ist ein extremes Beispiel dessen, was man heute so gerne Patchworkfamilie nennt. Da gibt es zwar die biologische Elternschaft, die aber bedeutet für Mischa nicht, dass dies auch die wichtigsten Bezugspersonen sind. Im Gegenteil. Zuweilen besteht für Mischa und seine Geschwister gar keine Beziehung zu den biologischen Eltern.
Mischa kneift vor dem Treffen mit seinen potentiellen Schwiegereltern, weswegen sich seine Freundin von ihm trennt und Mischa viel Zeit bleibt, in Rückblicken seine Entwicklung, die so eng mit den wechselnden Beziehungskonstellationen seiner Familie zusammenhängt, zu erzählen. Parallel dazu beginnt er eine unglückliche Affäre mit einer Frau, die sich fast wie seine psychisch gestörte Mutter verhält, mal seine Nähe sucht und dann wieder spurlos und ohne Begründung verschwindet.

Anfang der 80er Jahre wächst Mischa als Kleinkind bei seiner alleinerziehenden Mutter in Wien auf. Sie wurde von ihrem konservativen Vater verstoßen, da damals Alleinerziehende noch eine Schande darstellten. Das wirtschaftliche Elend, die Unzuverlässigkeit des biologischen Vaters, die Suche des Kindes nach einer Ersatzoma in der Arbeitgeberin der Mutter sind die prägendsten Erinnerungen der frühen Jahre. Ruth Cerha schildert, wie sich die schwierigen Beziehungskonstellationen schon auf ein kleines Kind auswirken können. Das Kind fühlt, dass nichts so ist, wie es sein sollte.
Auch als ein Ersatzvater auftaucht, spürt Mischa schnell, dass er nur wie das fünfte Rad am Wagen behandelt wird – neben den neuen Brüdern, die der Stiefvater in die Beziehung mit einbringt. Die Mutter hat immer mehr psychische Probleme und verschwindet zuletzt gar ganz. Mischa muss sich entscheiden, bei wem er bleiben soll. Zwischen vielen schlechten Alternativen muss er die beste finden und entscheidet sich letztendlich nicht für eine Person, sondern für die Plattensammlung des Ersatzvaters. Sie bietet nicht nur einen Fluchtpunkt in der Kindheit, sondern auch den Grundstock für seinen aktuellen Beruf, DJ.
Die Partnerinnen, die Kinder in der Familie, sie alle bilden Zweckbündnisse. Hilfe bringt man für die auf, die man mag, nicht für die, die einem blutsverwandt am nächsten sind. Viele Beziehungen in der Familie sind nur temporär und alle Beteiligten tragen Verletzungen und enttäuschte Erwartungen mit sich. Der Egoismus der Erwachsenen wird im Verhalten der nachwachsenden Generation gespiegelt. Es ist manchmal ein recht trostloses Bild, das Cerha hier als Idee einer Familie entwirft.
Mischa beobachtet mit Sorge Entwicklungen bei seinen Geschwistern und Stiefmüttern, so etwa bei seinem jüngeren Bruder, der zeitweise mit Neonazis sympathisiert, da er in seiner Familie keinen Rückhalt findet und glaubt, diesen bei den radikalen Jugendlichen zu erhalten.
So hat Mischa eigentlich schon genug Probleme, als er sich auch noch in die geheimnisvolle Maja verliebt, die von ihrem Bruder und ihrem Stiefvater unter Druck gesetzt wird und sich letztendlich wie seine Mutter verhält – eine Frau, die nur nach ihrem eigenen Belieben in seinem Leben auftaucht und ihr Kind ohne Begründung allein gelassen hat.

Es ist eine verwirrende Familiengeschichte mit (allzu)vielen Personen, Bindungen dauern nicht lange, Partner werden ausgetauscht. Für den Leser ist es zuweilen schwer, den Überblick zu behalten und oft wünscht man sich, die Autorin hätte sich noch mehr Zeit, mehr Raum genommen, um den einzelnen Personen Gestalt zu verleihen und sie dem Leser näherzubringen. Denn es gibt genügend interessante Figuren in der Geschichte, die das das Potential für einen ganz großen modernen Familienroman gehabt hätte. Aber selbst die Romanfiguren fürchten zuweilen, den Überblick zu verlieren. So haben oft leibliche Geschwister weniger Kontakt zueinander als die Kinder unterschiedlicher Lebenspartner, was sie zu der recht theoretischen Rechnung verleitet, wie verwandt man eigentlich sei. Vollgeschwister, Halbschwester oder gar nur ein Zehntelbruder?

Trotz der Verwirrungen, oder gerade deswegen, hat Ruth Cerha eine interessante zeitgenössische Entwicklung beschrieben: Wie sich Einstellungen zu Beziehungen von einer Generation zur nächsten verändern. Oder wie mit Beziehungsformen experimentiert wird und dabei oft die Bedürfnisse der Kinder vergessen werden, die unter all den Egoismen der Erwachsenen leiden.
Ruth Cerha ist dabei klug genug, um nicht eine einzelne Form der Familienbeziehung zu verurteilen und andere zu idealisieren, wie das in den letzten Jahren immer wieder geschehen ist. Sie zeigt in einigen Nebengeschichten auf, dass auch das konservative Familienbild, das vielleicht im Vergleich wie die gute alte heile Welt erscheinen mag, für die Beteiligten zur Hölle werden kann. Familie ist so nicht die vorgegebene Form, in die man sich einfach einfügen kann, um einen geborgenen Platz zu finden, sondern ein Ort, an dem sich jeder seinen Platz erkämpfen muß. Selten hat man so eine realistische Beschreibung von Familie lesen dürfen.

Das Buch wird deshalb besonders zum Schluß lesenswert, als nicht mehr der etwas langweilig wirkende Mischa berichtet, sondern einzelne Familienmitglieder ihre Sicht der Dinge beschreiben. Der Perspektivenwechsel tut gut, auch der Sprache. Und man kann erneut feststellen, dass die scheinbar simple Frage, wer die eigene Familie ist, nicht immer so leicht zu beantworten ist.

Ruth Cerha Zehntelbrüder
Roman.
Köln: Eichborn, 2012.
349 S.; geb.
ISBN 978-3-8479-0506-6.

Rezension vom 03.12.2012

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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