#Roman

Zebra im Krieg

Vladimir Vertlib

// Rezension von Helmut Sturm

Freilich wissen Leserinnen und Leser von Literatur, dass fiktionale Texte ebenso eine Wahrheit enthalten können wie Dokumentationen. Für die ausgefuchsten unter ihnen bedeutet ein Hinweis wie „Nach einer wahren Begebenheit“ deshalb auch nicht viel. Der Paratext zum neuen Roman von Vladimir Vertlib betont für sie, dass all die Absurdität, die erschreckende Hässlichkeit aber auch die leuchtende Größe des Menschen, von der erzählt wird, durchaus in der Realität anzutreffen sind.

Spätestens seit den Kulturbildern Karl Emil Franzos‘ aus „Halb-Asien“ ist das Gebiet der heutigen Ukraine Schauplatz in der deutschsprachigen Literatur. Cordula Simon und besonders Sasha Marianna Salzmann („Im Menschen muss alles herrlich sein“) machen uns mit den Lebensumständen in einer Welt bekannt, der wir zwar unentwegt in den Medien begegnen, die uns aber trotzdem weitgehend fremd bleibt. Literatur kann in dieser Hinsicht viel mehr als social-media, Zeitung und Fernsehen. Das gilt uneingeschränkt auch für Vladimir Vertlibs Zebra im Krieg, das durch ein vom Bürgerkrieg geplagtes Odessa oder Mariupol geistert.

Im Mittelpunkt der Erzählung steht der Flugzeugingenieur Paul Sarianidis und dessen Familie: Mutter Eva, Ehefrau Flora und die zwölfjährige Tochter Lena. Paul, durch die Kriegshandlungen arbeitslos geworden, bewegt sich viel in den sozialen Netzwerken. Wird geradezu süchtig („Wer braucht schon das reale Leben, wenn es das Netz gibt!“) und in seinen Kommentaren immer extremer. Nach der zwischenzeitlichen Machtübernahme durch die Terroristen, die sich Freiheitskämpfer nennen, wird er deshalb von deren Anführer in einem Online-Video schwer gedemütigt und jeder Würde beraubt. Seine Lage ist mit einer ukrainischen Wendung ausgedrückt „verschissen und runtergespült“, die aufgehetzte Meute betrachtet ihn als „menschlichen Müll“.

Die Verhältnisse halten alle möglichen Facetten von Unmenschlichkeit bereit und dennoch ist Vertlibs Roman ein Lesevergnügen. Ihm gelingt wie einst Grimmelshausen die Darstellung dessen, was im Roman als „Zeit der Pisser“ und „Zeit der Lüge“ betitelt wird, auf eine Art und Weise, bei der uns Leser/inne/n zwar mitunter das Lachen im Hals stecken bleibt, aber auch eine gewisse Genugtuung hervorgerufen wird, weil sich offenbart, wie lächerlich die Vertreter der Unmenschlichkeit sind.

Klug und auch sarkastisch werden die Verlogenheit von Politiker/inne/n, Korruption, problematische Lehrkräfte in der Schule, um sich greifender Opportunismus, Internet und Krieg vorgeführt. Am Beispiel der Familie Katz wird zudem der allgegenwärtige Antisemitismus benannt. Treffende Gedichtzeilen aus Werken von Tamar Radzyner, Trude Krakauer und Selma Meerbaum-Eisinger verweisen wie der Hinweis auf Bilder Francesco Goyas auf das zeitlich und örtlich Ungebundene der grässlichen Zustände.

Erstaunlich, dass in solch einer Welt die kleine Familie Sarianidis ihre Menschlichkeit bewahren und Liebe sichtbar machen kann. Das geht einher mit der sehr freien Nacherzählung der alttestamentarischen Geschichte von Sodom und Gomorra für die Tochter Lena, in der die Theodizee eine wichtige Rolle spielt. Die Frage, die auch Joseph Roths Hiob, der aus dem westukrainischen Galizien stammt, umtreibt, wie ein gerechter Gott denn so viel Ungerechtigkeit und Grausamkeit zulassen kann, ist latent eines der Hauptthemen des Romans. Wie der Hiob (Mendel Singer) Joseph Roths sich von den Zeichen der Religion frei macht, indem er Gebetriemen, Gebetmantel und Gebetbücher in den Ofen steckt, beschließt Paul, als er von der vernichtenden Demütigung nach Hause kommt, „auf die Erwähnung Gottes zu verzichten“. Paul, der „einmal im Leben das Richtige tun“ möchte, erkennt Gott als Lüge und erzählt davon auf der Grundlage seiner Interpretation des biblischen Textes.

In meiner Vorstellung mag das jetzt etwas theoretisch und lebensfern erscheinen, bei Vertlib ist es das gar nicht, im Gegenteil, sein Spiel der Fantasie „nach einer wahren Begebenheit“ ist voll des prallen Lebens. Nichts steht unserer Leselust entgegen.

Vladimir Vertlib Zebra im Krieg
Roman.
Salzburg, Wien: Residenz, 2022.
288 S.; geb.
ISBN 9783701717521.

Rezension vom 21.02.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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