#Roman

Wundraender

Sepp Mall

// Rezension von Beatrice Simonsen

„Sein Vater habe sich in Luft aufgelöst, sagte der Junge, von einem Tag auf den anderen.“ Zurück bleibt die Mutter mit den Kindern, Paul und Maria, und ein großes Schweigen. Das verstehst du nicht, sagt man zu Paul, der noch keine zwölf ist und sich die Zeit am liebsten auf dem Fußballplatz vertreibt. Sein Freund Herbert vermutet, dass der Vater etwas angestellt habe. Stella, das Mädchen mit dem italienischen Namen, meint, Pauls Vater wäre ein Attentäter, so sage man bei ihr zu Hause. Der Vater mit den mageren, weißen Händen, den Paul im Gefängnis besucht, ist für ihn nicht der Vater, den er von zu Hause kennt.

Johanna ist mit ihrem Bruder Alex vom Berg in die Stadt herunter gekommen, um Arbeit zu suchen. Zu zweit wohnen sie in einer winzigen Wohnung im „Kondominium“, einer am Stadtrand hochgezogenen Betonwohnburg. Alex trägt den Makel des Stotterers, geprügelt vom Vater, ausgegrenzt von der Gesellschaft. Als Elektriker wird er von seinem Chef warmherzig aufgenommen und nicht nur das. Etwas anderes ist da noch, was Johanna sich nicht erklären kann. Immer mehr entgleitet ihr der Bruder, der ein anderes, ein heimliches Leben beginnt.

Diese beiden Erzählstränge – der eine mit dem Jungen Paul im Zentrum, der andere aus der Perspektive Johannas – lässt Sepp Mall parallel zueinander verlaufen, verschränkt sie manches Mal, lässt Paul und Johanna einander begegnen, ohne dass die beiden voneinander wissen. Niemand hier weiß etwas. Geahnt wird viel, Gefühle werden angedeutet. Wirklich zur Sprache kommt wenig. Einmal ist die Rede von „etwas Politischem“, vom „Freiheitskampf“ wird geflüstert, einmal heißt es: „Schaut doch, unser Land. Unser schönes, geknechtetes Land.“ Dennoch bleibt alles im Untergrund. Männer fahren fort mit dem Auto, Polizisten kontrollieren Spaziergänger. Kein Hass flackert auf. Keine Prügeleien zwischen den Kindern, kein Streit mit den Nachbarn.

Dass es sich hier um Südtirol in den Sechziger Jahren handelt, entnehmen wir dem Klappentext. Wären da nicht die Berge, der Schnee, die Stadt, die in der Umrandung mit Fremden, mit Italienern, besiedelt wird, könnte es sich auch um das ehemalige Jugoslawien handeln. Auf der ganzen Welt gibt es diesen Zündstoff von einander bekämpfenden Volksgruppen, wenn es um den Verlust oder die Erhaltung von Heimat und Identität geht. In Südtirol konzentriert sich dieser Kampf seit der forcierten Italianisierung durch Mussolini auf den Vorort der Stadt, den sogenannten „Kondominium“, im Buch auch „Harlem“ genannt. „Harlem, das ist die letzte Scheiße, sagte seine Schwester. Da wohnen doch nur die Italiener. Die Hungerleider und die Italiener.“

Nach jahrzehntelanger Unterdrückung der deutschsprachigen Südtiroler kommt es in den Sechziger Jahren zu einer Radikalisierung durch Aktivisten, die Sprengstoffanschläge organisieren, die in der „Feuernacht“ ihren Höhepunkt mit der Sprengung von 34 Strommasten finden. In „Wundränder“ wird Alex von der eigenen Bombe vor einem italienischen Denkmal zerrissen. Pauls Vater, „das Verräterschwein“, begeht nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis, wo er offenbar gefoltert wurde, Selbstmord.

Sepp Mall nimmt die harmlose, unparteiische Perspektive des Kindes beziehungsweise der Schwester ein, aus der die politischen Aktionen der Männer schicksalhaft wirken. „Mein liebes Fräulein, sagt Kammerer, er legt mir die Hand auf den Arm, beschwichtigend, wie um mich zum Schweigen zu bringen. Davon versteht ihr nichts. Von der Liebe zum Volk, vom Opfergang, und schon gar nichts davon, wie einer zum Mann wird, ein armer Teufel, ein Stotterer wie Alex.“ Ein gefährliches Patriarchat wird da gezeichnet, in dem Frauen nur die Möglichkeit des Rückzugs auf sich selbst haben. Seltsam mutet es auch an, dass Verbindungen zu den anderen, den Italienern nur über verspielte Liebesbeziehungen möglich sind, die unernst gehandhabt und sofort rückgängig gemacht werden können. Es zeigt sich eine gespaltene Gesellschaft, die keine echten Berührungspunkte kennt. „Che bel cucciolo“, sagt die Nachbarin Johannas über deren neuen Hund, das Abschiedsgeschenk von Alex. Es sind die einzigen italienischen Worte, die fallen – auch auf sprachlicher Ebene gibt es keinen Austausch, keine Verbindung, keine Anteilnahme.

Südtirol verfügt heute in Italien über eine Autonomie, von der andere Minderheiten nur träumen können. Es scheint so, dass die Autonomie weitgehend die Duldung der Fremden bewirkt – aber keine Annäherung. Die Wunden sind zu vernarbten Wundrändern geworden, die sich immer noch nicht wegdenken lassen. Sepp Mall, der 1955 in Südtirol geboren wurde, lebt in Meran und ist bisher vor allem als Lyriker bekannt geworden. Mit „Wundränder“ nimmt er nun neben Joseph Zoderer, der den Südtirol-Italien-Konflikt in seinen Romanen in aller Direktheit aufarbeitet, oder Helene Flöss, die sich weiter zurück in die Geschichte Südtirols begibt, einen festen Platz als Südtirolchronist ein. Die Unterschwelligkeit, mit der die große Politik ins kleine Familienleben einbricht, gibt dem Roman die äußere Spannung, die Schlichtheit des Erzähltons lässt aufhorchen und mitfühlen. Mit äußester Sensibilität hat Sepp Mall denjenigen nachgespürt, die, ohne es zu wollen und ohne es zu wissen, in den „Opfergang“ miteinbezogen wurden.

Sepp Mall Wundraender
Roman.
Innsbruck: Haymon, 2004.
173 S.; geb.
ISBN 3-85218-458-4.

Rezension vom 27.10.2004

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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