Gerhard Kaiser, geboren 1927, Professor emeritus für Neuere Deutsche Literaturgeschichte in Freiburg, hat seinen Essay „Wozu noch Literatur?“ als Verteidigungsschrift angelegt: In Zeiten, in denen die Literatur von verschiedensten Seiten her eine „Wirkungs- und Geltungsminderung“ erfährt, erklärt der Wissenschaftler, dass und warum sie ein unersetzliches Medium der Lebens- und Welterfahrung ist: „Die Dichtung“, so meint er, „ist eine Raum-Zeitmaschine, die uns in die Tiefe der Geschichte und in die Weite der Welt führt, die uns mit den Augen fremder Zeiten und Kulturen sehen lässt, die uns ihren Geist und ihre Gefühlswelt mitteilen, wenn wir uns die Weltliteratur erschließen. Sie ermöglicht uns, aus unserem gelebten Leben in tausendfältige Lebenserfahrungen überzusteigen, die verschiedensten Standpunkte einzunehmen, die Innensicht manngifacher Charaktere und Situationen zu gewinnen.“
Gewiss ließen sich diese Sätze auch über den Film sagen, und tatsächlich streitet Kaiser nicht ab, dass „Kinofilme“ einen künstlerischen Wert haben können (während ihm zum Fernsehen und zur digitalen Welt nur Formulierungen wie „Einheitsbrei der Illusion“ einfallen). Die Literatur ist für Kaiser jedoch wertvoller als alle anderen Medien, denn sie gehört für ihn zu den Ausdrucksweisen, die den Menschen erst zum Menschen machen: „Literatur, Dichtung ist Sprachkunst und nirgends ist der Mensch so sehr Mensch wie in der Sprache und durch sie.“
Die unersetzliche Besonderheit dieser dichterischen „Sprachkunst“ stellt Kaiser in seinem Essay anhand ausgewählter Beispiele dar. Sie entstammen allesamt der anerkannt „großen“ Literatur, die in diesem Buch mit der Lyrik Paul Celans zu enden scheint. Mit der neuesten literarischen Produktion beschäftigt sich der emeritierte Professor für Neuere deutsche Literatur nicht näher, Namen wie Handke, Enzensberger, Dürrenmatt werden gelegentlich genannt, damit hat es sich.
Ob es in der bewussten Absicht des Verfassers lag oder nicht – das eigentliche Interesse des Buches besteht jedenfalls darin, die Literatur der Vergangenheit vor dem Vergessenwerden zu bewahren. Kaiser stellt eine Reihe ausgewählter Stellen aus unterschiedlichen Texten vor und kommentiert deren besondere Kunstleistungen. Am Beispiel der Küche des Gymnasialprofessors Schmidt, die in Fontanes Roman „Frau Jenny Treibel“ beschrieben wird, zeigt Kaiser etwa sehr anschaulich, dass literarischer „Realismus“ nicht durch die möglichst umfassende Abbildung der Wirklichkeit zustande kommt, sondern durch gezielte Selektion: Fontane wählt aus der Fülle des Möglichen diejenigen Einzelheiten aus, die dazu beitragen, dass die Beschreibung einer Küche zugleich zum dezenten Psychogramm ihrer Bewohner wird.
Kaisers Buch enthält solche textanalytischen Einsichten in großer Zahl, doch sind sie nicht um ihrer selbst willen gesammelt. In der Summe setzen sie sich zu einer Theorie zusammen, die zugleich eine Antwort auf die Frage des Titels geben soll. Literatur, so führt Kaiser aus, verwandelt Leben in Dichtung. Da sie dies nach literaturimmanenten Regeln tut – siehe Professor Schmidts Küche – ist sie nicht mit dem Begriff „Widerspiegelung“ zu fassen, den die neomarxistische Literaturtheorie in den siebziger Jahren ins Spiel brachte. Obwohl weit und breit kein akademischer Hahn mehr nach dieser „Widerspieglungstheorie“ kräht, widerlegt Kaiser sie noch einmal ausdrücklich. Allerdings widerspricht er ebenso vehement allen poststrukturalistischen, dekonstruktivistischen und diskursanalytischen Ansätzen. Im Rahmen dieser Theorien verweisen literarische Texte entweder auf gar nichts, oder auf andere literarische Texte, niemals aber auf textferne Wirklichkeiten. Kaiser hält dem ein pragmatisches Argument entgegen. Er fragt sich und damit auch seine Leser, „warum sich jahrtausendelang viele Menschen mit Dichtung beschäftigt haben, wenn sie lediglich mit dem Funktionieren von Sprache, also einem Spezialproblem der Zunft der Sprachtheoretiker beschäftigt wäre.“
Wenn man Gerhard Kaiser glaubt, ist an der Literatur also mehr dran, als sich die Literatursoziologen einerseits und die Texttheoretiker andererseits träumen lassen: Weder ist sie ein einfaches Abbild der Welt, noch ein weltfernes Sprachspiel. Sie ist vielmehr ein welthaltiges Phantasiegebilde, das von einem Autor nach Regeln der Kunst und im Licht seiner Lebenserfahrungen gestaltet wird, damit sich Leser finden, die in ihrem eigenen Leben mit den fremden Phantasien etwas anfangen. Diesen Gebrauchswert der Kunst umschreibt Kaiser in immer neuen Formulierungen, unter anderem in dieser: „Die Dichtung ist ein einzigartiges Versuchsfeld zum Experimentieren mit dem Menschen und seinen Lebensverhältnissen, einzigartig deshalb, weil das Experiment mit dem Menschen nur in der Kunst legitim ist.“ In der Literatur können und dürfen sich die Menschen also auch einiges erlauben, was ihnen in der Alltagsrealität nicht gestattet wäre. Im Unterschied zu vielen Schriftstellern versteht Kaiser diese experimentelle Haltung der Dichtung allerdings nicht als prinzipielle Ablehnung einer als banal empfunden Wirklichkeit, sondern als deren sinnvolle Ergänzung und Erweiterung. Das vernünftige Maß und Ziel wird in Kaisers kultivierten Gelehrtenerwägungen niemals außer Acht gelassen.
Gerhard Kaiser bezeichnet seinen Essay in der ersten Fußnote als „eine Art Lebenssumme“. In der Tat ist dem Anmerkungsapparat zu entnehmen, dass die meisten Textanalysen Kurzfassungen von Aufsätzen sind, die Kaiser im Lauf seiner wissenschaftlichen Tätigkeit geschrieben hat. Der Essay – 1996 schon einmal bei Beck erschienen und nun mit einem neuen Vorwort versehen von Königshausen & Neumann wieder aufgelegt – bietet also einerseits einen Querschnitt durch Kaisers Forschungen. Andererseits enthält das Buch jedoch – wie viele „Lebenssummen“ – eine Reihe von Sätzen, die sich der Form des Bekenntnisses nähern: „Leben in Literatur – das ist angesichts dieser Lage eine offensive Behauptung. Sie klingt wie das Pfeifen des kleinen Jungen im Wald, der seine Angst übertönt. Zunächst ist diese Behauptung vage und doppeldeutig. Sie postuliert für die Literatur, daß Leben in sie eingehe. Sie postuliert für unser Leben, daß Literatur in ihm einen Ort habe.“ So schreibt jemand, der sich ein Leben ohne Literatur so wenig vorstellen mag wie eine Literatur ohne Leben. Leser und Leserinnen, die mit dem Autor in diesem Punkt einig sind, werden seinen Ausführungen sicherlich einiges abgewinnen können. Dass Kaisers „Pfeifen im Wald“ jedoch auch diejenigen erreicht, die vor dem literaturlosen Zustand, in dem sie leben, nicht die geringste „Angst“ haben – das wird man bezweifeln dürfen.
Hermann Schlösser
18. Juli 2005
Originalbeitrag