#Roman

Wovon Schwalben träumen

Daniela Meisel

// Rezension von Ursula Ebel

In ihrem Roman Wovon Schwalben träumen schildert Daniela Meisel die anfangs feinen, dann zunehmend gravierenden Veränderungen im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung in einem Waldviertler Dorf. Die politischen Entwicklungen lassen familiäre und gesellschaftliche Gefüge nicht unberührt, entzweien Freundschaften und Familien und spalten die Dorfgemeinschaft. Vor allem lassen sie die Hauptfigur, die junge Einzelgängerin Freda, rat- und machtlos zurück. Denn die Erwachsenen sparen klare Stellungnahmen zu den politischen Entwicklungen aus und Freda muss sich die Zusammenhänge selbst erschließen.

Freda ist die Großmutter von Marie, der Hauptfigur des zweiten Handlungsstrangs, mit welchem der Roman eröffnet wird: „Deine Wohnung ist ein Platz zu Atmen.“ Für die junge Biologin ist die verlassene Wohnung der bereits verstorbenen Großmutter ein idealer Ort zum Nachdenken, denn niemand weiß, dass diese noch existiert. Es gibt einen triftigen Grund für den Rückzug der Ich-Erzählerin Marie, ihr um einiges älterer Partner Fritz hat ihr einen Heiratsantrag gemacht. Die erbetene Bedenkzeit nutzt Marie, um sich dank ihrer Erfahrungen in der Paarbeziehung ein möglichst realistisches Bild der gemeinsamen Zukunft auszumalen. Wird sie eigenständig bleiben? Weiterhin beruflich erfolgreich sein können? Welche Motive stecken hinter dem Antrag? Gleich zu Beginn formuliert sie ihre Ängste: „Ich habe den Verdacht, Fritz sucht eine Frau, die seinen Weg mit ihm geht. Ich glaube, die war ich, bin sie nicht mehr, aber auch noch keine andere. Oma, du bist deine Tage so selbstbestimmt angegangen. Wie ist dir das damals gelungen?“

Dieser vierte Roman der österreichischen Autorin Daniela Meisel begibt sich auf einfühlsame Weise auf die Spurensuche nach einem Leben fern jeglicher Fremdbestimmung und Rollenklischees. Freda ist eine Art Pippi Langstrumpf-Figur im Waldviertel der 1930 Jahre, unter ihren Nägeln finden sich Schmutzränder, sie spielt gern allein im Wald und die mütterlichen Bemühungen sie zu einem süßen Mädchen zu erziehen bereiten ihr Unbehagen. Kurzum ein ungewöhnliches, naturverbundenes Kind. Freda möchte sich mit den Gegebenheiten nicht abfinden, gewissenhaft lotet sie ihre Grenzen aus. Als uneheliches Kind wird sie gemieden, findet jedoch einen Vertrauten, den neulich zugezogenen Außenseiter Benjamin. Sie lesen einander Gedichte vor, bewundern die Natur und suchen die einsame Zweisamkeit. Kurzum, sie wenden sich vom Zeitgeist ab, der von sportlicher Ertüchtigung, Disziplin und Kameradschaftlichkeit dominiert wird. Ihr Umfeld reagiert auf die beiden zunächst skeptisch, die Tatsache, dass es sich bei Benjamin um ein „Judenbalg“ handelt, führt rasch zu direkten Anfeindungen, sowohl von MitschülerInnen als auch von der Dorfgemeinschaft (Vgl. Leseprobe).

Als Benjamin, Sohn des jüdischen Greißlers im Nachbarort, nicht mehr in der Schule erscheint, begibt sich Freda auf die Suche und stellt Erkundigungen an. „Freda trommelt gegen das Tor des Nachbarn. Ob er die Mandls beobachtet hat? Beim Packen, Räumen, Aufbrechen? Sie hetzt von Haus zu Haus – manche Türen öffnen sich. Kopfschütteln, Abwinken, Schulterzucken. Keiner will etwas gesehen haben oder bemerkt. (…) In der Schule hockt Freda starr in der Bankreihe, kann nicht zur Seite schauen, den Anblick des leeren Pults ertragen. Die Kratzer im Holz sind Spuren, die einfach so enden. Sie spürt die Schnitte in ihrer Haut.“
Meisels ruhige Sprache lässt sich von den beklemmenden und beängstigenden Entwicklungen, die Menschenleben kosten und familiäre Bande entzweien, nicht aus der Ruhe bringen, der Roman behält sein langsames Erzähltempo bei.

Propagandablätter bringen die Parolen ins Dorf, das fernab des politischen Geschehens liegt: „Brot und Arbeit ist da durch ein Ja!“ und „Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich!“ liest Freda die Slogans, sieht Fotos von Panzern und fremden Soldaten auf den Straßen, im Hintergrund jubelnde Menschen.“ Für Freda erschließen sich erst langsam die Beweggründe für das Verschwinden von Jüdinnen und Juden. Sie sucht die Verweilorte ihres Freundes Benjamin auf, wartet vor dem Bethaus, doch dieses ist bereits verlassen. Sie wandert weiter zum jüdischen Friedhof, der antisemitischem Vandalismus zum Opfer gefallen ist. Ein Dorfbewohner drückt sein Bedauern aus, eine Bewohnerin klagt über die fehlenden Geschäfte. Der Mutter missfällt die Freundschaft: „Ein Mädchen in deinem Alter, eine junge Frau, was solln die Leute denken, und dazu noch ein Jud!“ Die differenten Reaktionen und Handlungsweisen der DorfbewohnerInnen werden dargestellt, von der Autorin jedoch nicht beurteilt und kommentiert.

Interessanterweise gelingt es Freda in den 1940er Jahren viel besser sich als selbstbestimmte Frau zu behaupten als der Ich-Figur Marie in der Gegenwart. Die Lebensentwürfe der beiden Frauen, Marie und Freda, werden einander gegenübergestellt. Freda hat keine andere Wahl als widerständig zu sein, ihr einziger Freund wird ihr genommen, die Gemeinschaft wendet sich von ihr aufgrund der unkonventionellen Familienstruktur ab, die Eltern leben in wilder Ehe, führen noch dazu die Gastwirtschaft des Dorfes, und ihre Familie konfrontiert sie mit klaren Rollenbildern. Marie hat es um vieles einfacher, sie braucht für ihre Unabhängigkeit nicht zu kämpfen. Doch dies gilt nur bis zur Frage der Lebensgestaltung als berufstätige Frau – ist ein selbstbestimmtes Leben als Ehefrau und Mutter möglich? Die Antwort der WG-Mitbewohnerin auf die empörte Feststellung Maries, dass ihr Partner bestimmt kein Macho sei, gleicht einem kritischen Urteil über die gegenwärtigen Machtstrukturen in Paarbeziehungen: „Ist er nicht. Aber wie die meisten der sogenannten modernen Männer hat er diese Sie-kann-tun-was-sie-will-solang-es-mir-nicht-quer-kommt-Mentalität.“

Daniela Meisel gelingt es auf eindrucksvolle Weise dem feinen Wandel vom unangepassten Mädchen Freda zur selbstbestimmten Frau und gleichzeitig den anfangs kaum merklichen, später gravierenden Veränderungen im Zuge des aufkommenden Nationalsozialismus in einem Waldviertler Dorf nachzuspüren.
Der Roman zeichnet das Portrait zweier Frauen aus zwei Generationen. Sie haben ähnliche Ziele, starten jedoch unter gänzlich anderen Voraussetzungen. Überraschenderweise gelingt es der ‚Oma-Generation‘ in diesem Roman viel besser ihre Vorstellungen des eigenen Lebenswegs zu formulieren und umzusetzen. Die aktuelle Protagonistin Marie scheitert mitunter bereits an der Formulierung.

Auf die eingangs von Marie gestellte Frage: „Oma, du bist deine Tage so selbstbestimmt angegangen. Wie ist dir das damals gelungen?“ liefert der Roman Hinweise, ohne die Lesenden mit fixen Antworten abzuspeisen. Diese zurückhaltende Erzählweise macht das Besondere des Romans aus, er hält Lücken und Leerstellen für die eigene Fantasie bereit.

Daniela Meisel Wovon Schwalben träumen
Roman.
Wien: Picus, 2018.
228 S.; geb.
ISBN 978-3-7117-2071-9.

Rezension vom 06.11.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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