#Roman
#Debüt

Wolfssteig

David Bröderbauer

// Rezension von Florian Dietmaier

2018 lag der tägliche Bodenverbrauch in Österreich laut Umweltbundesamt bei 10,5 Hektar. Dieser Wert sinkt seit 2013 zwar kontinuierlich, doch Österreich ist ist in Sachen Verbauung weiterhin im europäischen Spitzenfeld. Und wird es wohl auch bleiben.

Zum Beispiel sieht das am 1. Jänner 2019 in Kraft getretene Standortentwicklungsgesetz eine Beschleunigung bei Umweltverträglichkeitsprüfungen für „standortrelevante [Bauprojekte] im besonderen öffentlichen Interesse der Republik Österreich“ vor. Und manchmal wird sogar versucht Naturschutzgebiete zu Bauland umzuwidmen. 2018 etwa im niederösterreichischen Wolfsgraben.

Woher rührt diese österreichische Obsession, Land sofort verbauen und versiegeln zu müssen, sobald es als frei erkannt wird? Genau um diese Frage und um die mit ihr verbundenen sozioökologischen Aspekte geht es in David Bröderbauers Debütroman Wolfssteig.
Im gleichnamigen fiktionalen Ort, der im realen Waldviertel liegt, löst das Bundesheer einen Truppenübungsplatz auf, der bis vor Kurzem für Panzerübungen genutzt worden war. Der Platz war bald nach dem Anschluss, angeblich auf besonderen Wunsch Hitlers, errichtet worden. Nun wurden seine Kasernen gegen den Willen einer lautstarken Mehr- oder Minderheit der Wolfssteiger zu einem Asylantenheim umfunktioniert. Verschiedene ortsansässige und -fremde Gruppen haben jedoch andere Verwendungszwecke für die riesige Fläche im Sinn.
Die Wolfssteiger Jäger wollen den Platz, weil es durch die jahrzehntelange Sperrung und Abschottung eine große Vielfalt von jagdbaren Tieren wie Wildschweine, Mufflons und Birkhühner gibt. Die Wolfssteiger Bauern wollen den Platz, weil ihre Vorfahren bei seiner Errichtung, gegen eine Entschädigung, umgesiedelt worden waren. Und schließlich will ein Na-turverbund den Platz zum Naturschutzgebiet oder am besten zu einem Nationalpark machen. Denn neben den vielen Tieren ist das Sperrgebiet auch reich an Pflanzen, wobei die Abschottung und die Panzer geholfen haben:
„Ihr Kettenantrieb schadete der Steppe weniger als Pflugscharen und Pestizide. Im Gegenteil übernahmen die Panzer die Rolle der ausgestorbenen Auerochsen und Waldbüffel, walzten die aufkeimenden Birken und Fichten platt und verhinderten die Ausbreitung des Walds.“
Bauern und Jäger sowie eine Gruppe junger Männer, die an die Identitäre Bewegung Österreichs angelehnt scheint, verbünden sich gegen den Naturverbund. Dessen namenlos bleibender Geschäftsführer räumt dem Verbund trotzdem die besten Chancen ein, da ihnen „der Umweltminister persönlich grünes Licht für die Planung des Naturschutzgebiets gegeben hatte.“ Denn aufgrund der ungeklärten Besitzverhältnisse habe das Verteidigungsministerium gegen die Bauernlobby Veto eingelegt, sodass dem Umweltministerium, das dieser Lobby eigentlich näher als den Naturschützern steht, die Hände gebunden sind.
Bei einer Informationsveranstaltung zu Beginn des Romans macht daher ein Herr Fellner von der Landwirtschaftskammer Stimmung gegen das Naturschutzgebiet, denn er weiß, dass die Wolfssteiger das Projekt doch kippen könnten. Mit einem Naturschutzgebiet bliebe „das Land für uns Wolfssteiger für die nächsten hundert Jahre ein Sperrgebiet. Ich sage euch, wir müssen jetzt zusammenhalten und gemeinsam für die Wiederbesiedelung des Truppenübungsplatzes kämpfen.“ Die Bauern, Jäger, die Identitären, sowie eine lautstarke Mehr- oder Minderheit der Wolfssteiger sind auf seiner Seite.

Der promovierte Biologe Bröderbauer macht aus dieser komplexen Sachlage einen spannenden Roman, indem er die Handlung auf zwei Protagonisten konzentriert. Der diplomierte Biologe und gebürtige Waldviertler Ulrich Bruckner soll im Auftrag des Naturverbundes ein Jahr lang die Birkhuhnpopulation am ehemaligen Truppenübungsplatz untersuchen. Das Birkhuhn soll „das Zugpferd für die geplante Kampagne werden.“ Denn im Waldviertel und vor allem am Platz „existiert die letzte außeralpine Population auf heimischen Boden“, erklärt Ulrich dem zweiten Protagonisten Christian Moser.
Dieser hat beim Bundesheer gearbeitet, einige Auslandseinsätze „in der Wüste“ mitgemacht, und am letzten Tag des Truppenübungsplatzes einen Panzerunfall gebaut, bei dem er sein rechtes Bein verlor. Seit dem Ende des Panzerbataillons arbeitet er als Hausmeister im Asylantenheim, für dessen Bewohner er sich bei der erwähnten ersten Infoveranstaltung und auch danach einsetzt. Außerdem hilft er mit seiner umfassenden Kenntnis des Geländes Ulrich bei der Katalogisierung der Birkhühner.
Ulrich und Christian wissen um die Komplexität der Situation und versuchen sie auf ihre Art zu lösen. Ulrich will mit seiner Studie eine unumstößliche Grundlage für ein Naturschutzgebiet schaffen. Christian will mit guten Beispiel vorangehen und den Wolfssteigern seine Weltoffenheit vorleben.
Beide erkennen noch im ersten Drittel des Romans beziehungsweise lernen sie von einander, dass es dabei nicht um die Wahrheit ihrer Fakten oder um die Redlichkeit ihrer Intentionen geht, sondern dass es vor allem auf die Wirkung der guten, der richtigen Geschichte ankommt. Ulrich ist etwa erstaunt, als Christian ihm erzählt, dass der Somalier Masud Fischer war. Vor ein paar Tagen hat Masud Ulrich noch erzählt, dass er Bauer war: „Christian schien sich an dem Widerspruch nicht zu stören, aber Ulrich war beleidigt. ‚Dann hat er mir eine Geschichte erzählt? Mir kann er doch die Wahrheit sagen!‘ / ‚Nimm es nicht gleich persönlich. Wer weiß, vielleicht stimmt es ja auch.'“
Ulrich kann das aber nicht so schnell akzeptieren, weshalb Christian ihm Masuds mögliche Beweggründe für diese ‚Lüge‘ erklärt: „Jeder Westler, den du triffst, hat eine Vorstellung, wie deine Geschichte aussehen soll. Deine wahre Geschichte glaubt dir sowieso keiner. Die Ayslbehörden wollen nur eine ganz bestimmte Version hören, die Wahrheit interessiert die gar nicht. Wenn du keine gute Geschichte hast, bist du aufgeschmissen.“
Ulrich hat sich diese Lektion gemerkt. Als er etwas später Dee Browns Bury My Heart at Wounded Knee liest, bemerkt er ein Foto des Kiowa-Häuptlings Kicking Bird: „Eine Inszenierung für den weißen Mann, schoss es Ulrich durch den Kopf.“
Davor erklärt er Christian, als sie über den Platz spazieren, dass es „im Waldviertel ursprünglich fast keine Nadelbäume gab“. Der bestehende Laubwald „wurde abgeholzt, um Fichtenforste anzulegen.“ Christian kann das nicht glauben, ist er doch quasi im Fichtenwald aufgewachsen und zudem würde der Tourismus mit der guten Waldluft werben. „‚Alles Betrug. Alles Fälschung.‘ Ulrich schien es zu genießen, in zu schockieren.“
Bei einem Workshop, den der Naturverbund veranstaltet und in dem sich die verschiedenen Gruppen näher kommen sollen, wendet Christian dieses Wissen an und sagt, „dass die Fichten im Waldviertel ja gar nicht heimisch seien und der Borkenkäfer die ruhig auffressen könne.“
Doch hilft ihm diese Einsicht um die Macht von den richtigen Geschichten? Nicht wirklich. Vielmehr macht sie die komplizierte Lage noch komplizierter, denn bereits im Workshop erkennen sie, dass sie nicht gegen die Geschichten der anderen ankommen werden. Auch wenn sie diese als falsch enttarnen, halten sie genug andere Menschen für richtig und gut.

Bröderbauer, so viel sei hier verraten, lässt sie keine einfachen Lösungen finden. Und das ist die große Stärke von Wolfssteig: Jenes Gefühl von Ohnmacht sichtbar zu machen, das sich einstellt, wenn man erkennt, dass man etwas machen muss, man aber nicht weiß, wie man es machen soll. Oder wenn man erkennt, dass man nichts (mehr) machen kann.
Davon ausgehend führt Bröderbauer Ulrich und Christian nach dem ersten Drittel an dunkle Orte. Doch zu Pessimisten werden sie nie. Dafür sind sie zu empathisch: Obwohl das natürlich das Ohnmachtsgefühl verstärkt, wollen sie die Hoffnung nicht aufgeben.
Vielleicht an diese ohnmächtige Hoffnung anspielend, beendet Bröderbauer sein gelungenes Debüt jedenfalls so wie er es begonnen hat: Mit einer kurzen und menschenleeren Szene am ehemaligen Truppenübungsplatz. Die Natur als Rahmen, der sich an den Menschen anpassen kann. Noch könnte der Mensch sich auch an sie anpassen.

David Bröderbauer Wolfssteig
Roman.
Wien: Milena, 2019.
264 S.; geb.
ISBN 978-3-903184-31-2.

Rezension vom 24.07.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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