Wissen was man tut, obwohl man Unwissen kultiviert. In diesem Spannungsfeld, das die ersten Zeilen von Wolfs Tochter abstecken, findet sich auch der Roman selbst. Die feinfühlige Herangehensweise, mit der sich Erika Wimmer Mazohl dem Leben von Erika Danneberg nähert, zeigt, dass er dort gut aufgehoben ist.
Das Wien der Nachkriegszeit ist in Wolfs Tochter der Lebensmittelpunkt von Erika Danneberg. Die Autorin lebt dort als verheiratete Frau mit Hermann Hakel, einem wichtigen Förderer der österreichischen Literaturszene. Die Beziehung wird zur treibenden Kraft der Erzählung, da Mazohl sich im Roman durch verschiedene Episoden der gemeinsamen Zeit bewegt. Dannebergs Leben ist den Bedürfnissen des Gatten angepasst und öffnet Räume der Sehnsucht. Die Selbstbehauptung der Autorin neben Hakel, der so intelligent und erfahren scheint, wird zum harten Kampf. Hinzu kommt der unerfüllte Kinderwunsch, den Erika mit sich herumträgt, den der Gatte ihr nicht erfüllen will, oder nicht erfüllen kann. Immer wieder versucht Wolfs Tochter Dannebergs Individualität aus dieser Beziehung herauszuschälen und ihr einen eigenen Platz in Abgrenzung zum Gatten anzubieten, ohne ihr einen zuzuweisen. Das liest sich zwar mitunter als Abrechnung mit Hakel, ist jedoch, in einem weiteren Kontext betrachtet, auch die Reibung an einem patriarchal strukturierten Literaturbetrieb, dessen langer Arm bis in die Gegenwart reicht. Die sorgfältig kultivierte Aura von Figuren wie Hakel oder dessen Konkurrenten Hans Weigel, deren Empfehlung literarische Karrieren starten oder enden lassen kann, wirkt sich selbstverständlich auch auf die private Sphäre aus. Episoden, in denen Hakel seinen Narzissmus auf Kosten seiner Frau auslebt, oder die verschiedenen Affären beider Partner schaffen eine Distanz, unter der vor allem Erika leidet.
„Das wiederum weiß ich von H., der sich wie üblich in böser Manier darüber amüsiert hat, dass Erika, ausgerechnet Erika, Psychoanalytikerin zu werden gedenke, wo sie doch mit sich selbst nicht ins Reine gekommen sei. Er hat sie ausgelacht. Dieser ach so gescheite Mann hat wieder einmal das Logische nicht kapiert, nämlich dass genau jene Leute, die jahrelang bei sich selbst suchen müssen, zu kompetentesten Ratgebern für andere werden.“
Die Konflikte zwischen Hermann und Erika rücken den Fokus stärker auf ihre Person, die unablässig an sich selbst für die gemeinsame Beziehung arbeitet. Diese Arbeit ist außerdem Reflexion der damaligen Zeit: Hakel kehrte als einer der ersten jüdischen Intellektuellen nach Wien zurück, für ihn möchte Erika konvertieren. Sehr fein zeichnet Mazohl diese Dynamik zwischen stückweiter Selbstaufgabe, Abhängigkeit und Liebesbeziehung, unter der jedoch eine sehr eigenständige und leidenschaftliche Person zum Vorschein kommt. Erikas antifaschistische Überzeugungen kann sie mit Hermann nicht teilen, ihre Positionierung gegen den Antisemitismus und die intensive Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Vater macht sie, als Kind einer Täterfamilie, weitgehend mit sich selbst aus. Besonders schön sind die Passagen über ihre Faszination für „das Dunkle“ und ihre Rekonstruktion von Kindheit in Kurzgeschichten, wo Kräfte zum Vorschein kommen, die mit Hakel nichts zu tun haben.
„Erikas dunkle Partien, warum sage ich Partien, das klingt merkwürdig, Erikas Schatten sind gewissermaßen konzeptuell, eben Resultat eines Nachdenkens, wohl auch eines Beobachtens, aber weniger eines Beobachtens von Erfahrungsmustern die Innenhaut entlang als des Feststellens und Sicherns äußerer Vorgänge, die zu Schlussfolgerungen führen. Wobei Folgerungen bis zu einem gewissen Grad immer bloß Spekulationen sind.“
Die Annäherung an die Person Erika Danneberg vollzieht der Roman stark über die gewählte Form. Obwohl die Autorin, Psychoanalytikerin und Friedensaktivistin jeden der fünf Teile des Romans bestimmt, ist sie als Figur doch meist nicht präsent. Erika Wimmer Mazohl wählt eine multiperspektivische Erzählweise, mit der sie die historische Person umkreist, ohne sie dabei festzusetzen. Wolfs Tochter bleibt ein Annäherungsversuch, und ergibt, wie bei einer Schraffierung mit Kohle, einen sehr schönen literarischen Abdruck. Durch geschickt eingesetzte Montagetechniken kommt Danneberg selbst zu Wort. Auszüge aus ihrem Tagebuch, das Hakel zu Lebzeiten offenbar selbst interessiert gelesen hat, setzen spannende intertextuelle Anknüpfungspunkte. So wird die 2007 verstorbene Erika Danneberg zwar literarisiert, aber nicht durchwegs psychologisiert: Den Leser*innen werden tiefe, leuchtende Einblicke gewährt, jedoch bleibt die Person ephemer und eigenständig.
„Ich spinne während du schläfst, deinen Faden weiter, stelle mir vor, wie die Welt sich mehr und mehr zurückzieht aus dir, wie deine Vergangenheit sich verdünnt und deine Zukunft Gefahr läuft, von einem einzigen Menschen beherrscht zu werden. Hast du jemals sprechen gelernt – in deiner Sprache? Wirst du das besitzanzeigende Fürwort jemals unterstreichen können?“
Die klare Sprache in Wolfs Tochter lenkt die Aufmerksamkeit auf die Biografie und komplementiert die Tagebucheinträge, wirkt aber in ihrer Direktheit manchmal etwas aufdringlich. Die fünf Passagen klingen in unterschiedlichen Tonlagen mitunter etwas bemüht. Ein lockerer Plauderton wird aufrechterhalten, der streckenweise an die psychoanalytische freie Assoziation erinnert, sich dabei aber immer wieder überschlägt. Obwohl dies dem Roman Intensität nimmt und einzelne Passagen spürbar dämpft, machen die unkommentierten Perspektivenwechsel Spaß und ergeben als Umkreisungen einer wenig bekannten Biografie einen interessanten Roman. Mit ihm wird Erika Danneberg zum hundertsten Geburtstag ein schönes Denkmal gesetzt, denn er löst ein, was er am Anfang verspricht: Er vermittelt einen Einblick in das Leben einer Frau, die Stärke aus ihren Zweifeln schöpft, ohne sich dabei selbst zu sicher zu sein.