#Prosa

Wohin auch immer

Birgit Müller-Wieland

// Rezension von Silvia Sand

Manche der Erzählungen wirken wie ein schweres Erbe, das die in Deutschland lebende Autorin aus ihrer Heimat mitgenommen hat. In Wohin auch immer geht es oft um das, worüber hierzulande – wenn überhaupt – nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird. Sensibel erzählt die 1962 in Oberösterreich geborene Autorin Birgit Müller-Wieland von Menschen in Lebenskrisen.

„Ihr Cousin wurde zu einem Phantom, über das nur mehr in Andeutungen gesprochen wurde, hinter vorgehaltener Hand …“ (S.28 Traunsee-Novelle) und ein paar Seiten später gesteht Anna „Sie schäme sich in Grund und Boden … Sie habe die ganze Zeit das Gefühl gehabt, daß man hier laut und klar sagen müsse: Halt. Hier stimmt etwas nicht.“ (S.35) Niemand hat etwas gesagt zu dem Cousin, dem Schandfleck in der Familie, der seinen Reichtum auf Waffenschieberei aufgebaut hat. Alle tun so, als wäre nichts. „Familienschutzprogramm“ nennt Anna das. Und während Anna erzählt, verliebt sich ihr Gegenüber, Roman, in sie, den sie rein zufällig hier auf der Durchreise am Traunsee kennenlernt. Und nur rein zufällig erfährt man in dieser Erzählung durch ein einlangendes SMS, dass Roman Frau und Kind hat und dass es wohl nicht geplant war, sich so auf der Durchreise zu verlieben. Wie die Geschichte zwischen Roman und Anna weitergeht, erfahren wir nicht, aber wir haben gespürt, dass da etwas ist, was gar nichts mit dem waffenschiebenden Cousin zu tun hat. In diesen feinen Schwingungen unter der Oberfläche der primären Erzählung liegt die Kunst der Autorin. Immer laufen da zwei Ebenen nebeneinander her, immer ist es der äußere Schein, der von einer inneren Wahrheit gebrochen wird.

Feine „Schwingungen“ hat es möglicherweise auch zwischen der Ich-Erzählerin aus „Der Besuch“ und dem Geliebten ihrer Tochter gegeben. Die Ahnung der Tochter, die in einem Bild formuliert wird („etwas unglaublich intensiv Grünblautürkises … es war wie eine Wasserwelle, sie flog bis zu mir herauf, wie ein Klatschen ins Gesicht“, S.13), meint den Seitensprung, den ihr der Geliebte ausgerechnet mit ihrer eigenen Mutter angetan hat. Die Ohnmacht des Menschen vor seinen Gefühlen führt auch zu der grausamen Abhängigkeit, an der zwei Schwestern in „Der Blick“ leiden. Wieder ist es der Betrug, den die eine der anderen angetan hat (mit deren inzwischen verstorbenem Ehemann) und der totgeschwiegen wird. Wie zwei Ertrinkende klammern sich die Schwestern in hilfloser Zuneigung aneinander.

Das Verschwinden des Ehemannes beziehungsweise Familienvaters wird in einigen der Erzählungen thematisiert, wofür im sogenannten Familienschutzprogramm entsprechende Maßnahmen vorgesehen sind. Dafür gibt es eine Einleitung in „Gleich nach dem Frühstück“, eine Fortsetzung in „Emma“ und den Schluss in „Hand aufs Herz“ – auch wenn die Erzählungen keinen direkten Zusammenhang haben, verschwindet der Vater auf diese oder jene Weise in jeder dieser Familiengeschichten von einem Tag auf den anderen. Das klingt dramatisch in „Gleich nach dem Frühstück“, in der eine mit zwei Kleinkindern überforderte Frau davon betroffen ist, es klingt abgeklärt in „Emma“ aus der Sicht der inzwischen erwachsenen Tochter und in „Hand aufs Herz“ hat der weibliche Teil der Familie die Überwindung des verschwundenen Vaters geschafft („Wie auch immer. Mein Leben wurde, das kann ich sagen, einfacher nach dem Verschwinden des Vaters.“, S.80)
Verantwortung scheinen diese Männer ebenso wie jener in „Wir hatten schon einmal das Vergnügen“ nur dem Wort nach zu kennen. Worauf Roman seinen Sohn Niclas am Ende der „Traunsee-Novelle“ vorbereiten will („…beim leisen Zuziehen der Tür hatte Roman sich überlegt, wie er Niclas vorbereiten würde“, S.42) wissen wir nicht, es könnte aber durchaus sein, dass auch hier ein Familienvater dabei ist, sich zu verabschieden.

Die Erzählungen leben von Andeutungen, von Handlungen, die im Verborgenen stattfinden, oder nur von Wünschen und vom Unterbewussten, das den Personen manchmal wie das Klingeln des Handys in den Rücken fährt. Ein Phantomschmerz macht sich breit und muss unterdrückt werden, denn es geht doch um Verletzungen, die man ausgerechnet den Personen zufügt, die man liebt. Mitmenschlichkeit oder besser Miteinandermenschlichkeit gelingt in diesen Fällen nicht immer, Fehler und Schuldgefühle werden unterdrückt. Nur wenn die Menschen das Schweigen überwinden, können sie zueinander finden und das demonstriert die Autorin in Erzählungen, die vom Kranksein, vom Alter und vom Sterben handeln. Sie lässt Großmutter und Enkelin („Erzähl mir was Schönes“) in einer Symbiose auftreten, in der die Enkelin eine Eigenständigkeit erlangt, die dennoch die Innigkeit mit der Großmutter nicht zerstört, oder sie lässt einen alten Mann im Gespräch mit einem Engel sehr realistisch über das Sterben räsonieren („Mein Engel“). Birgit Müller-Wieland zeigt wie Leben und Sterben ineinanderwirken und dass das Ende gar nicht so unendlich weit vom Leben entfernt ist, wenn man nicht die Augen davor verschließt.

In immerhin zwei Erzählungen gibt es auch ein kleines Glück, das sich nach einer langen Talfahrt der Gefühle durchsetzt. Ein Glück, das Beziehungen durchwächst, die sich nicht verstecken müssen. Perfekt ist der Ausdruck wiedergewonnener Lebensfreude in der Titelerzählung Wohin auch immer ebenso wie der sprühende Witz in „Warum Neapel?“ und ich hätte mir noch ein paar mehr Geschichten gewünscht, die den Schwerpunkt von der Krise hin zur Überwindung derselben rücken.

Birgit Müller-Wieland Wohin auch immer
Erzählungen.
Innsbruck, Wien: Haymon, 2009.
174 S.; geb.
ISBN 978-3-85218-601-6.

Rezension vom 14.09.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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