In „Gap“ durchstreifte ein Entomologe auf der Suche nach Schmetterlingen den Dschungel Kolumbiens, gerät in die Wirren eines Militärputsches, aber auch in die Wirren einer doppelten Liebesbeziehung, hin- und hergerissen zwischen der Prostituierten Inés und der Seelenschwester Sophia. Etwas von dieser Inés-Geliebten, die vollständig im Hier und Jetzt lebt, ganz Natur, Ursprung, weibliche terra incognita ist (worauf ja der Titel „Gap“ hindeutet), hat auch die Frau, die nach achtzehn Jahren von dem Ich-Erzähler in Wo immer du willst wieder aufgesucht, erneut und noch leidenschaftlicher geliebt und dann zu regelmäßigen Besuchen auf den Alten Kontinent eingeladen wird; in unregelmäßigen Abständen, immer von der Flüchtigkeit, Unbeständigkeit ihrer im Alltag nicht-lebbaren Beziehungen bedroht. Doch diese Bedrohung ist zugleich der Reiz dieser wiedergefundenen amour passion. Und so macht sich das Paar, aneinander gekettet durch das Versprechen, sich zu treffen, „wo immer Du willst“, mit einem zum Wohnmobil umgebauten Caravan auf eine Fahrt durch südliches Gelände, durch die Macchie, die Umgebung von Venedig, Istrien, durch das Isonzo-Tal …; im Gepäck nicht nur Hoffnungen und Träume, sondern auch viel Literatur (deren Spuren sie auf ihrer Route folgen).
Liebe als Road-Movie. Vom Motiv her also nichts Neues. Umwerfend komisch jedoch die Art, wie Steiner das Thema anpackt: Der Autor verschwindet ganz hinter seinem Ich-Erzähler (kein episches Präteritum, sondern Präsens; keine multiple Perspektive, sondern ein identifikatorisches Ich) und überlässt ihn gnadenlos dem Zustand amouröser Unzurechnungsfähigkeit. Der Effekt: Lachen, Schmunzeln und angeheitertes Kopfschütteln. Da wird etwa als Motto auf der ersten Seite Petrarca zitiert (in Altitalienisch) und dann mit dem Satz eröffnet: „Es tagt, und nun kann ich sehen, daß der Flecken Wiese inmitten der Macchie noch grün ist, ein gebrochenes Grün im gelben Hauch des Herbstes. Auf diesem stillen Platz bin ich erwacht. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, aber ihr Nahen hilft mir, die Umgebung nach den Richtungen des Himmels zu orten“. Ein bisschen wenig, denkt der petrarcisch eingestimmte Leser, und fast wäre man geneigt, ob dieses Absturzes ein erstes Mal zu verzweifeln, wären da nicht weitere Sätze, die, für sich genommen unerträglich, sub species Liebestaumel jedoch nichts als komisch und damit befreiend sind. Kaum erwacht, fährt der Ich-Erzähler seiner grünen Wiese davon, immer in Richtung Venedig, wo er seine Liebste auf dem Flughafen erwartet. „Die Ungeduld der Erwartung macht mich rastlos. Immer wieder beschleunige ich, ohne es zu wollen, muß den Fuß vom Gaspedal nehmen, um die Fahrt zu verlangsamen“. (Wer hätte das gedacht, dass, wenn man den Fuß vom Gaspedal nimmt, das Auto langsamer wird). Später die Beobachtung, dass beim Anflug der Maschine alles, Rumpf, Flügel und das darüber aufragende Heck, im Gegenlicht der Sonne schwarzgrau erscheint (Zeit: 17.50 Uhr). „17.55 Uhr, das Flugzeug aus Barcelona landet, rollt aus, macht eine Wende und hält Minuten später an der Ankunftshalle. Eine Gangway wird herabgelassen, doch es dauert“, … und dauert und dauert. So geht das weiter, die alte Weisheit bestätigend, dass, wem das Herz voll ist, der Mund übergeht. Es wird in den Bereich von Bedeutsamkeit geholt, was dem auf mittlerer bis sparsamer Flamme enthusiasmierten Leser als Kitsch erscheinen muss (siehe Leseprobe).
Erst richtig lustig wird es aber, als die beiden Liebenden endlich beieinander sind und der Erzähler in jene Anbetungshaltung versinkt, die sowohl das Gegenüber jeder Konturierung enthebt, noch Platz lässt für jene im Imaginären zu erzeugende Empathie, die den Leser nachvollziehen ließe, was diese Liebe rechtfertigt (und zu der es wohl doch einer zweiten erzählerischen Instanz bedurft hätte). Ganz besonders schlimm wird es nämlich mit der Blödigkeit (im alten, doppeldeutigen Sinne des Wortes) des Ich-Erzählers, wenn er berichtet, wie Hanna denkt. „Sie hat sich Gedanken gemacht“, heißt es da, „denn nun sagt sie: ‚Nicht wir bestimmen das Schicksal, es ist umgekehrt'“ – Anlass für einen längeren Diskurs, der uns Leser von den proto-philosophischen Fähigkeiten Hannas überzeugen soll, wo es doch eigentlich nur an Hannas Sprachschwierigkeiten liegen kann, wenn sie Tautologisches als fundamentale Erkenntnis begreift. Oder hat unser Liebender erst gar nicht zugehört?
Sehr wahrscheinlich, denn niemand ist so egozentrisch wie der, der sich ganz seinen Leidenschaften überlässt, zu lieben glaubt, aber nur sein Ego streichelt. In Martin Walsers Roman „Ohne einander“ ist von einem solchen Rohling die Rede. Von EME heißt es, er „fühle sich durch Ellen [seine Geliebte] erschlossen. Reich sei er geworden durch Ellen. Wesensreich. Mit Ellen in einem blöden Straßencafé, und gleich erlebe er die jungen Damen am Nebentisch als Feuerzeuge des Schicksals, den farblosen Herrn mit der Zeitung als Selbstmörder auf Raten, das typische Pärchen als zwei Liebende in der Diaspora“. Das alles ist bei Walser voller Ironie und erzählerischer Distanz geschildert; Chance für die anderen Figuren, im Laufe der Romanhandlung wechselweise Recht zu bekommen. So schonend ist Steiner gegenüber seinem Protagonisten nicht. Er lässt ihn ungeschützt seine aberratio ausleben, eine aberratio, die jegliches Spachgefühl und jegliche Kritikfähigkeit zunichte macht und in einer Art Logorrhö endet (vom Handke-Stil, der in seinem genauen, langsamen Erzählen immer wieder durch das Risiko, am äußerst-möglichen Wort zu scheitern, einem das Sehen und Hinhören lehrt, keine Spur). So hingegeben ist Steiner seiner Figur, dass man bisweilen versucht ist, den Autor mit dem Ich-Erzähler zu identifizieren.
Das wäre allerdings verhängnisvoll, denn dann wäre die Komik unfreiwillig und die ganze Erzählung nichts als das Dokument eines Menschen, den die Liebe um den Verstand gebracht hat. Vergessen wir also, dass der Autor zuweilen bekräftigte, „ich erzähle Geschichten, die ich erlebt oder in meinem unmittelbaren Umfeld erfahren habe“. „Ich wollte jemanden teilhaben lassen, was ich da erlebe, was ich sehe“. Sehen können Liebende bekanntlich schlecht. Nehmen wir also an, dass der Autor das gesehen hat.