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#Prosa

Wo andere Leute wohnen

Lore Segal

// Rezension von Kristina Pfoser

Mit einer Knackwurst im Gepäck ist die zehnjährige Lore Groszmann unterwegs nach Großbritannien – es ist der 10. Dezember 1938, ein Monat nach der sogenannten „Reichskristallnacht“. Jüdische, christliche und politische Verbände in Großbritannien hatten nach der Reichspogromnacht eine Aktion initiiert, die über 9.000 vorwiegend jüdischen Kindern das Leben rettete. Neun Monate, bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs, wurden Kinder mit Zug und Schiff von Berlin, Frankfurt, Prag und Wien ins rettende England zu Gastfamilien und in Heime gebracht. Lore Groszmann wird die nächsten sieben Jahre bei verschiedenen Gastfamilien in Großbritannien aufwachsen – und unter Tränen muß sie sich gleich zu Beginn auch von ihrer Knackwurst, dem Relikt aus der Heimat, trennen.

Das war der Anfang, was folgte, war eine wechselvolle Kindheit und Jugend. Von den orthodoxen Levines in Liverpool, über die Arbeiterhaushalte der Hoopers und der Grimsleys im Süden, bis zu den Damen Douglas und Dillon mit ihrem großen Haus und dem Garten und ihrem ritualisierten Tee-mit-dem-Vikar. Wo andere Leute wohnen, dort war Lore Groszmann nur Gast. Und schon damals hat sie begonnen, ihre Erfahrungen aufzuzeichnen.

„Ich hatte damit angefangen, zu Hause nach der Schule meine Autobiographie zu schreiben, um die Engländer, wie ich es meinem Vater versprochen hatte, wissen zu lassen, was wir unter Hitler mitgemacht hatten“, heißt es gleich am Beginn des Buches, als Lore in Liverpool gelandet war.

Dennoch – es ist keine Erzählung, die von Leid, Entbehrung und Heimatlosigkeit geprägt ist, vielmehr zeichnet Lore Segal nüchtern, unsentimental und mit hoher Sensibilität eine bewegende Familiengeschichte nach, unprätentiös und mit feinem Humor. Und bei allen Wirrnissen werden da nicht zuletzt auch die kuriosen Seiten des British Life aus der Kinderperspektive sichtbar gemacht.

Belastend war für Lore vor allem die Abwesenheit der Eltern – ein Jahr sollte es dauern, bis auch ihnen die Flucht gelang. In Großbritannien angekommen, konnte die Familie zwar immer wieder zusammentreffen, ein Zusammenleben war aber nicht mehr möglich. Mit einer Haushälterstelle konnten die Eltern wohl ihren Unterhalt verdienen, aber nicht viel mehr. Lore Groszmanns Vater konnte sich nie an die neue Umgebung gewöhnen, nach mehreren Schlaganfällen wurde er zum Pflegefall – bis zu seinem Tod umsorgt von der Mutter, die sich im Exil Energie und Würde erhalten konnte.

Lore Groszmann selbst beginnt in London zu studieren, nach ihrem Abschluß folgt sie Mutter und Großeltern in die Dominikanische Republik – von dort gelang es der Familie schließlich, 1951 die Einreiseerlaubnis in die USA zu erhalten. Dort – soviel wird noch mitgeteilt – heiratet Lore den Verleger David Segal, und sie beginnt Kurzgeschichten zu schreiben.

In ihrer Muttersprache schreibt Lore Segal nicht mehr, und so kam es denn auch, daß ihr 1964 in den USA erschienener und mehrfach aufgelegter autobiografischer Romans hierzulande erst jetzt wahrgenommen wird. Von Sabina Illmer aus dem Amerikanischen übersetzt, von Ursula Seeber in der Reihe „Österreichische Exilbibliothek“ herausgegeben. Der Verzicht auf die Muttersprache ist Folge eines Identitätsverlusts, der auch am glücklichen Ende der Geschichte – Lore Segal studiert in New York – Thema ist. „Wir feiern gar nichts mehr“ – heißt es da zu Thanksgiving – „Weihnachten nicht, weil wir Juden sind, und jüdische Feiertage nicht, weil wir assimilierte Österreicher waren, und österreichische Feiertage nicht mehr, weil sie uns hinausgeschmissen haben, da wir Juden sind, und die amerikanischen Feiertage haben wir uns noch nicht angewöhnt.“

Mit ihrem autobiografischen Roman Wo andere Leute wohnen hat Lore Segal ein berührendes Dokument vorgelegt, dessen literarische Qualität nicht hinter der Unmittelbarkeit der Erfahrung zurücksteht.

Wo andere Leute wohnen.
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Sabina Illmer.
Wien: Picus, 2000.
368 Seiten, gebunden.
ISBN 3-85452-440-4.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 09.03.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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