#Prosa

Wir haben keinen Kontakt mehr

Andreas Jungwirth

// Rezension von Simon Leitner

Eigentlich wollte David Zoologe werden. Der nächste Konrad Lorenz, wie er selbst sagte. Letztendlich wurde aber nichts daraus, aus dem Zoologie- am Ende doch ein Germanistikstudium, der Lebensmittelpunkt von Wien nach Leipzig und schließlich nach Berlin verlegt. Nun befindet sich David, mittlerweile um die 50, wieder in Wien und, wie es scheint, in einer glücklichen Beziehung mit Stefan. Aber ist David auch wirklich glücklich dort, wo er jetzt ist? Fest steht zumindest, dass in seinem bewegten Leben nicht alles nach Wunsch verlaufen, vieles anders gekommen ist, als er sich das vorgestellt hat – nicht nur, was die Wahl seines Studiums betrifft.

Was genau sich David, der Protagonist in Andreas Jungwirths Erzählung Wir haben keinen Kontakt mehr, von seinem Leben erhofft hat, erfährt der Leser nur zum Teil. Und auch nicht von David selbst, sondern gewissermaßen gefiltert, in den Geschichten jener Menschen, denen er irgendwann mal in seinem Leben begegnet ist und mit denen er mal mehr, mal weniger zu schaffen hatte. Da wäre zum Beispiel Matthias, ein Pianist, mit dem David als frischgebackener Maturant beinahe seine erste homosexuelle Erfahrung gemacht hätte. Oder auch Oliver, der eine Zeitlang eine Affäre mit David hatte. Oder auch Paul, der den damals schon nicht mehr ganz jungen Mann in einer Disco kennengelernt und ein paar Stunden mit ihm verbracht hat.

Viele dieser insgesamt 14 Menschen, die jeweils in Monologen zu Wort kommen, scheinen eher zufällig in David Leben geraten zu sein, bis zu einem gewissen Grad austauschbar. „Und wie das in solchen Nächten ist, es ging nicht um ihn, es ging nicht um mich, er hätte jemand anderes sein können, ich hätte jemand anderes sein können“, fasst es etwa eine Figur kurz und prägnant zusammen. Genauso macht es den Anschein, als hätten die wenigsten seiner zahlreichen Bekanntschaften, Freunde und temporären Liebhaber, die sich über die Jahre angesammelt haben, wirklich Spuren bei David hinterlassen, diesen nachhaltig geprägt. Doch mit zunehmender Lektüre zeigt sich: Nur weil man diese Spuren vielleicht nicht sofort erkennt, heißt das noch lange nicht, dass es sie nicht gibt.

Am eindrücklichsten zeugt davon die Geschichte mit Tomasz, die gewissermaßen das Herzstück der Erzählung bildet, sogar buchstäblich, wenn man so möchte. Zunächst nimmt sich die Episode nicht wirklich besonders aus, sticht nicht wirklich heraus, beschreibt lediglich eine weitere Begegnung unter vielen. Erst eine geraume Zeit später, im Rahmen eines anderen Monologs wird dem Leser klar, dass Tomasz David offenbar viel bedeutet hat, dieser sogar sein ganzes Leben mit ihm verbringen wollte – jedoch aufgrund eines Vorfalls, der einen Streit und ein Messer beeinhaltete, den Kontakt abgebrochen hat. Und zwar so lange, bis es schließlich zu spät für beide und eine gemeinsame Zukunft war.

Das erwähnte Ereignis zwischen Tomasz und David samt unglücklichem Ende hat Letzterem nicht nur extrem zu-, sondern auch etwas in ihm freigesetzt, etwas, das vorher noch nicht richtig erkennbar war und sich mit diesem Vorfall in gewissem Sinne Bahn gebrochen hat. Das wird in den späteren Kapiteln deutlich, die David von einer deutlich brutaleren Seite zeigen, die bis dahin maximal angedeutet wurde und beweist, dass der Gewaltausbruch gegen Tomasz nicht nur im Affekt passiert ist, sondern Gewalt und (Selbst-)Zerstörung ein Teil Davids sind. Mike etwa, eine weitere Figur, musste das buchstäblich am eigenen Leib erfahren. „Das ist kein Spiel mehr, dachte ich, das hier ist eine Riesenscheiße.“

Die einzelnen Episoden sind meist, wie die Erzählung selbst, recht kurz, dennoch erhält man aufgrund dieser multiperspektivischen Auffächerung ein vielschichtiges Bild von David in unterschiedlichen Lebensphasen – von einem unbefangenen Jüngling, dem die Zukunft offensteht, bis zu einem fünfzigjährigen Mann mit einer dunklen Vergangenheit und ebensolchen Geheimnissen. Die Menschen, die er in seinem rastlosen Leben getroffen hat, haben alle eine ganz bestimmte Meinung von ihm. Auch wenn sie umgekehrt vielleicht maximal ferne Erinnerungen für David sind. Aber wer kann das schon wissen? Vielleicht haben sie ähnliche Spuren bei ihm hinterlassen wie Tomasz. Solche, die vielleicht nicht sichtbar, aber auf jeden Fall vorhanden sind.

Wir haben keinen Kontakt mehr ist eine ungemein dichte Erzählung, die ob ihrer Geradlinigkeit und direkten Sprache zunächst vielleicht etwas unscheinbar wirken mag, aber auf gerade mal 80 Seiten nicht nur ein ganzes Leben im Kleinen, sondern auch große Themen verhandelt: das Erwachen der eigenen Sexualität, verpasste Chancen und verlorene Lebensentwürfe, Schattenwelten mit Darkrooms und Pornokinos, die Folgen ebenso zufälliger wie flüchtiger Begegnungen und schließlich die Frage, wie viel man eigentlich von einem anderen Menschen wissen kann – und wie viel von sich selbst.

Andreas Jungwirth Wir haben kein Kontakt mehr
Erzählung.
Wien: Edition Atelier, 2019.
80 S.; geb.
ISBN 978-3-99065-016-5.

Rezension vom 18.12.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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