Erst in Graz, in einem Lager aufgenommen, wurde dem Vater mit einem Schlag klar, dass er „einen Bock geschossen“ hatte. Und dieser emotionale Aufschrei des sonst wortkargen Vaters ist das einzige authentische Zeugnis, das der heute 70jährige Autor aus der Optionszeit im Gedächtnis behalten hat. Alles andere hat er in schwieriger Erinnerungsarbeit dem um 10 Jahre älteren Bruder dann viel später entlocken müssen. Da ist zum Beispiel das Bild des großen Bruders in Lackschuhen und des kleinen in kurzen Hosen am Bahnhof, mitten im Winter 1939. Gefroren haben alle, aber das war nicht das Schlimmste. Am Schlimmsten war wohl die Angst vor den Konsequenzen dieser Entscheidung, die niemand vorhersehen konnte. Was sollte aus denen werden, die man in der Katakombenschule „die Lebensregeln eines Christen auf deutsch“ gelehrt hatte „und das war: wie denkt ein Tiroler, wenn er fühlt“? Eine gemeinsame Gratwanderung der beiden Brüder wurde dieser Gedankenaustausch, den Joseph Zoderer in seinem Buch Wir gingen notiert. Der Ältere fühlte sich vom Jüngeren angeklagt, wenn er gefragt wurde, warum er sich nicht gegen die Entscheidung des Vaters gewehrt hätte und er konnte sich auch nicht erinnern, dass irgendjemand die Familie gezwungen hätte, zu gehen.
Wir gingen ist nur eine kurze Erzählung, auf 30 knappen Seiten wird ohne Parteinahme und ohne Schuldzuweisung von einem kleinen Familienschicksal erzählt, das noch dazu in Relation zu anderen als harmlos angesehen werden kann. Niemand kam hier zu Tode, niemand ging verloren, keine Gewalttaten wurden verzeichnet. Die Familie ist nur kurzzeitig zum Opfer höherer Politik geworden, hat nur vorübergehend ihre Heimat verloren und ging nach dem Krieg wieder zurück nach Südtirol. Die Erzählung konzentriert sich auf die Entscheidung, die der Vater für die Familie trifft, auf das Hier und Jetzt Südtirols 1939. Sie geht weder auf weitere Konsequenzen noch auf die Aussichten des heranwachsenden Joseph ein diese sind eher Thema von Das Glück beim Händewaschen, mit dem Zoderer 1982 seinen literarischen Durchbruch feierte.
In Italien ist Zoderer mit seinem Roman Die Walsche, was auf tirolerisch so viel wie „Italienerin“ heißt und für den er 1986 den Premio Catullo erhielt, zur Berühmtheit geworden. Neben Bachmann, Handke und Bernhard ist er einer der wenigen in Italien übersetzten deutschsprachigen Autoren. Auch in Der Schmerz der Gewöhnung (2003) hat Zoderer sich noch einmal mit dem Konflikt zwischen den beiden Volksgruppen in Südtirol auseinandergesetzt. Der Konflikt schwelt weiter, nach so vielen Jahren des Miteinander- oder besser Nebeneinanderlebens gibt es ihn immer noch. Die Wurzel des Konfliktes ist die Option und das Interesse an dessen Aufarbeitung groß. Zoderer liest dieses Buch vor ausverkauften Gemeindesälen und überfüllten Schulklassen, ein Mal Deutsch, ein anderes Mal Italienisch. Die Resonanz ist groß. Nicht dass niemand etwas wüßte über diese Zeit, aber nicht auf diese lebendige Weise ist es erzählt worden: langweilig in den Geschichtsbüchern, hetzerisch von politischen Parteien, totgeschwiegen von den Verwandten.
Joseph Zoderer ist Schriftsteller – er ist aber auch ein „Erzähler“, wie es sie in dieser Qualität nicht allzu häufig gibt. Er hat quasi nebenbei eine Parabel zu einem zeitlosen Thema entworfen: die Option findet immer statt, denn die Grenzen sind in unseren Köpfen nicht auszurotten. In diesem Buch nun kommt die deutsche Erzählung Wir gingen der italienischen Übersetzung von Umberto Gandini Ce n’andammo entgegen, wobei sich die beiden immerhin in der Mitte treffen.