#Roman
#Prosa

Wir bleiben noch

Daniel Wisser

// Rezension von Christina Vettorazzi

Nach der preisgekrönten Königin der Berge (Jung & Jung, 2018) publizierte Daniel Wisser im März 2021 seinen neuesten Roman: Wir bleiben noch, erschienen im Luchterhand Literaturverlag, beschreibt den Verfall des gesellschaftlichen Kollektivs im 21. Jahrhundert. Wiederum ein ambitionierter Text, der auch, aber nicht nur aufgrund seiner Aktualität sehr lesenswert ist.

Geschichte im modernen Mantel

Victor Jarno kann sich für viele Phänomene seiner Zeit nicht besonders begeistern. Abseits von Emojis nerven ihn Whatsapp-Gruppen, E-Bikes, die Presse, Telefonate, die bestehenden politischen Verhältnisse und das Weinen seiner (ehemaligen) Partnerin Iris. Jene stört sich wiederum an Victors Geschichten über die Vergangenheit. Dummerweise handelt es sich genau dabei um etwas, für das sich der Protagonist des Romans begeistern kann. Seine Familiengeschichte hat einen besonderen Reiz für ihn. Ein Umstand, der durch das plötzliche Erscheinen seiner schönen Cousine nicht unbedingt gemindert wird. Es ist kaum verwunderlich, dass die Beziehung von Iris und Victor den Roman nicht überlebt. Genau genommen wird ihr Ende bereits auf den ersten Seiten geschildert. Ebenso das Eintreffen der schönen Karoline im Haus der Großmutter. Im Anschluss an diese Ereignisse lässt die Romanze der beiden Hauptfiguren nicht lange auf sich warten. Bei der Lektüre jener Seiten, die die Liebe zwischen Cousin und Cousine in der Anfangsphase beschreiben, könnte sich bei den Leserinnen und Lesern mit fortgeschrittenen Beziehungserfahrungen eine Frage aufdrängen: Was genau fasziniert diese beiden Figuren so aneinander? Es scheint, als würde primär die gemeinsame Familiengeschichte diese romantische Verbindung ermöglichen. Victor Jarno, der ultimative Geschichtenerzähler, freut sich darüber, eine interessierte Zuhörerin in Karoline gefunden zu haben. Es wirkt, als wäre sie die perfekte Frau, doch hat diese Liebesgeschichte gerade erst begonnen.

„Als Victor erwachte, lag Karoline nicht mehr im Bett. Sie war auch nicht mehr im Zimmer. Lautes Ticken war zu hören. Karoline musste die Batterien der Uhr wieder eingelegt haben. War das wieder ein Traum gewesen, zu dem es keine Fortsetzung geben würde?“ (44)

Fortpflanzung als Mittel der Arterhaltung

Dass die Familie von Karolines und Victors Verbindung wenig begeistert ist, wird kaum einen Leser oder eine Leserin überraschen, doch ist es auch nicht vorhersehbar, dass diese Liebe den innerfamiliären Zusammenhalt in regelrechte Feindschaft umwandelt. Die Mutter zieht gegen ihre eigene Tochter vor Gericht, um das Testament der Urli, also ihrer eigenen Mutter, anzufechten. Karolines Schwester will ebenfalls nichts mehr mit den beiden zu tun haben und verhindert, dass sie Kontakt zu ihren Kindern haben. Ein eigener Nachwuchs scheint die einzige Möglichkeit zu sein, den Sozialdemokraten und das schöne Reh vor der Vereinsamung und dem Aussterben zu bewahren, aber Karoline ist bereits in ihren frühen Vierzigern angekommen. Allein deshalb wäre es eine risikoreiche Schwangerschaft. Victor ist jedoch in der Vergangenheit und seiner Familie gefangen. Er denkt nicht an die möglichen Probleme. Karoline, die Ärztin, ist hingegen skeptisch, ergreift dann aber doch die Initiative. Als ihr Körper die typischen Schwangerschaftssymptome anzeigt, wirkt es, als wäre Victor endlich in der Gegenwart angekommen.

„Wenn Karolines Übelkeit allerdings bedeutete, dass sie vielleicht schwanger war, würde ein Kind den Räumen im Haus, aber auch dem Bach, dem Grundstück, dem Waldrand und dem Garten neue Bedeutung geben. Dann würden Karoline und Victor einander bald Geschichten darüber erzählen, wie und wo das Kind zum ersten Mal dieses oder jenes getan hätte, und nicht mehr nur von längst verstorbenen Familienmitgliedern sprechen.“ (234)

Der Ruck in die falsche Richtung

Neben der Familiengeschichte ist das zweite Thema, das Victor wirklich interessiert die Politik. Doch entwickelt sich diese parallel zur Familiengeschichte nicht so, wie der Protagonist es sich wünschen würde. In seinen Kreisen gilt er als „der letzte Sozialdemokrat“ (207). Der Ruck geht nach rechts und diese Linie zeigt sich auch innerhalb der Familie. Daniel Wisser legt die gesellschaftliche Doppelmoral offen. Auf Vergangenes wird mit dem Finger gedeutet, aber auch in der Gegenwart halten Eigeninteressen die Menschen von Nächstenliebe ab. Der Protagonist selbst ist „der einzige Nicht-Katholik in der Familie“ (424) und scheint zugleich der Einzige zu sein, der das Konzept der Nächstenliebe wirklich verstanden hat. In der unkonventionellen Beziehung von Karoline und Victor manifestiert sich eine Art revolutionärer Akt gegen die bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, der in der Heirat der beiden Figuren kurz vor der Neuwahl nach dem Ibiza-Skandal seinen Höhepunkt findet. Die christlich-soziale Partei hat ein Eheverbot für Cousins und Cousinen in ihr Programm aufgenommen. Daraufhin macht Victor Karoline einen Antrag. Zuvor wollte er die Liebe von der Politik trennen und mit der Heirat warten. In diesem Fall ist die Liebe ist jedoch in den Hintergrund gerückt. Das gemeinsame Glück wird von Einsamkeit geschmälert. Am Ende steht in einer spiegelverkehrten Weise der „Casablanca“-Gedanke: Zwar können die beiden Figuren zusammen sein, doch werden sie kein erfülltes Leben führen. Auch der ultimative revolutionäre Akt, die Zeugung eines Erben oder einer Erbin, bleibt ihnen versagt. Victor wird aussterben und mit ihm nicht nur das Breitmaulnashorn.

„Victor war froh, als er zu Hause war. Alles, was von seinem Elternhaus übrig blieb, war die Plastiktragetasche mit dem Foto und der roten Mappe. Wie oft würde er denn noch von hier weg müssen, um Dinge zu erledigen? Einmal noch zum Notar, um das Haus der Eltern zu verkaufen. Und einmal noch zum Gericht wegen Tante Margarete. Und dann: aus!“ (402)

Auch in Wir bleiben noch eröffnet Daniel Wisser einem gesellschaftlichen Tabuthema den Weg in die Literatur. Seine Darstellung ist empathisch, humorvoll und gerade am Anfang ein wenig zu üppig. Diese Geschichte muss erst einmal verdaut werden. Dabei stößt nicht primär der Gedanke an eine Liebesbeziehung zwischen Cousin und Cousine auf, sondern deren zuckersüße Beschreibung. Doch sollten die ersten Seiten niemanden von einer Fortsetzung der Lektüre abhalten, denn sie bilden das Fundament einer Geschichte der Intoleranz, einer Geschichte der Zeit. Erneut ist Daniel Wisser ein Werk gelungen, das bestimmt länger bleibt.

Wir bleiben noch.
Roman.
München: Luchterhand, 2021.
480 Seiten, gebunden.
ISBN: 978-3-630-87644-3.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 22.03.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.