#Theater

Winterreise

Elfriede Jelinek

// Rezension von Elena Messner

Was man so alles mit Sprache machen kann, führt Elfriede Jelinek wieder einmal vor in ihrem Theatertext Winterreise, der auf Anregung der Münchner Kammerspiele entstand und im Februar 2011 ebendort uraufgeführt wurde. Jelinek bietet ganz wie zu erwarten war jede Menge an Bröckchen und Häppchen zu Politik und Privatem, Schlüsselstellen und Kurzschlüsse, Wiederholungen und Wiedergängereien, (Weg-)Weiser, Spuren, Zeichen, Bilder. Franz Schubert erklärte Jelinek zu ihrem Lieblingskomponisten, mit Winterreise begibt sie sich – quasi auf „Bestellung“ – auf eine Reise durch den von ihm vertonten Liedzyklus. Und mit dem Lieblingskomponisten geht auch die Rückkehr zu früheren Jelinek-Themen einher: Korruption, Bankenskandale, Abhängiggeitsverhältnisse, Gefangenschaft, Einsamkeit, Verrat, Neid, Familienzwänge, Zeit, Scheitern, Internet und Schitourismus.

24 monologische Gesänge sind es, die die originale Winterreise bilden, acht monologische Einheiten wurden bei Jelinek daraus, typische Jelinek-Textflächen: ihr Reisetext ist eine polyphone Collage ohne Rollenvorgaben oder Regieanweisungen, ohne vorgebene Schauplätze oder Dialoge, die Erzählerstimme wechselt ständig vom „Ich“ zum „Wir“ und zurük zum nächsten „Ich“. Ein Textgespinst, so nennt es ein Rezensent, ein Textgespenst, möchte man in Jelinek-Manier hinzufügen: denn Gespenster, Untote sind es unter Anderem, die darin umhergeistern, zu einem sprechen, ihre Fragen daherleiern, wütend meist, und spöttisch. Man muss sich einlassen auf Jelineks Sprache, auf ihr weitergetriebenes Projekt, den Doppelsinn von Worten zu enthüllen durch deren monotone Wiederholung in jeweils anderem Kontext, oder durch das Aneinanderreihen von Wörtern ähnlicher Lautung, einlassen auch auf pedantisch oder kindisch anmutende Wortspiele bzw. Stil- oder Sprachfiguren, Alliterationen und Anaphern, Allusionen. Einlassen auf die wilde Assoziationstechnik, die Rätselhaftigkeit, auf neu etwickelte Symbole, auf maßlose und maßlos komische Übertreibungen, auf sprachliche Dauerschleifen: all dies sind Effekte, mit denen die Autorin erfolgreich „Fremdheit“ oder „Störung“ sprachlich vorführt und damit irritiert.

Das Groteske, das Brutale ihres Textes muss Jelinek natürlich nicht erfinden, weder die im Privaten, Alltäglichen zu findende Gewalt noch jene strukturelle, die Konsequenz der politischen Realität ihres Landes ist. Der radikale Umgang mit ihrem Material, mit fremdem Material, hat ihr die Vorwürfe eingebracht, Parasit, Abschreiberin, Autorin von Texten aus zweiter, aus dritter Hand zu sein. Aber was ist es, was Jelinek mit diesem Material macht? Die nahezu plakativ arrangierten und ineinander montierten Intertexte ragen aus dem neuen Text heraus, Verwebungen und Verschiebungen folgen einem eigenen Automatismus: Die „reiche Braut“ aus der Winterreise, die den Wanderer hinaustreibt in die kalte Welt, wird zu einer sexuell ausstaffierten Allegorie auf die Affäre Hypo-Alpe-Adria. Das Verschwinden des Schubertschen Wanderers in der Schneelandschaft korreliert mit jenem des „Entführeropfers Natascha Kampusch“. Wenn im Text Bilder wie Schnee schmelzen und ein neidvolles „kollektives Wir“ Öffentlichkeit für seine eigenen Schmerzen einfordert und der Fremden aus dem Keller nicht zuhören möchte bei ihren Schmerzerzählungen, flattern die Bilderfluten zum Fall Kampusch in unserer Erinnerung auf. Das Posthorn erschallt: ein Jelineksches Ich sucht Befriedigung, Nähe, Anschlussfähigkeit im Internet, der Post des 21. Jahrhunderts – vergeblich, wie der Wanderer der Winterreise auf den Brief seiner Geliebten. Die Tränen der „Winterreise“, die auf dem Gesicht des wandernden Ichs gefrieren, sind jene, die der Entführer seinem Opfer Kampusch mit dem Handrücken ins Gesicht drückt, weil er fürchtet, die in den Tränen enthaltene Salzsäure könne ihm die Fliesen kaputtmachen. Ein deutliches Zitat aus der ARD-Dokumenation über Natascha Kampusch, die Jelinek am Ende des Textes als Quelle angibt (nach Kathrin Rögglas Theaterstück „Die Beteiligten“ stellt Jelinek nun also den zweiten Theatertext zu diesem Thema). Was sie da am Textende des Weiteren anführt sind die titelgebende „Winterreise“ nach dem Liederzyklus von Wilhelm Müller und Franz Schubert – auch das offensichtliche soll nicht verheimlicht werden – und Heidegger, ohne Quellenangabe, stattddessen mit folgendem Verweis: der Ärmste!, arm wie immer alles übrige, was bleibt mir übrig? Was bleibt dem Reisen? Nur Sein und Zeit. Und das ist schon viel!

Das Private, nicht Privatisierte, die persönlichen Erfahrungen der Autorin werden erneut zum Material, eigenes Material, verfremdet. Der winterliche Schnee, in dem Spuren sichtbar bleiben und der auch am Deckblatt landen durfte, steht für Schmerzen und Verletzungen, für den Winter als „eisige“ Zeit in der Politik, aber auch schlicht für das Alter und den Tod – höchst Persönliches, Biografisches der Autorin wird da vertextet. Das eigene Altern. Der Tod des Vaters. Auf einem reißenden Fluss reitet dieser Vater, auf einem Fluss von Tochter und Mutter – die ihn „verraten“, „aufgeben“ werden, in ein Heim stecken, in eine Irrenanstalt: die Einweisung von Jelinkes alzheimerkrankem Vater in die Psychiatrie dominiert ein ganzes Kapitel. Und die Thematisierung der komplizierten Beziehung zur Mutter dominiert Jelineks Opus generell.

Am Ende des schubertschen Liederzyklus steht der Leiermann, am Ende der Jelinkeschen Textgewalt steht ebenfalls ein weibliches „Ich“, mit ihrer ewig gleichen Leier. Obwohl viele Kritiker diese Passage als ironische Selbstabrechnung der Autorin lasen, scheint diese weniger selbstironisch (zumindest nicht mehr als der ohnehin ironische Grundton bei Jelinek meist ist) als vielmehr eine spöttische Abrechnung mit den sie angreifenden Kritikern zu sein. Denn es ist erneut ein neidvolles „kollektives Wir“, das auf den letzten Seiten des Textes der „wunderlichen Alten“ nahelegt, doch endlich ein neues, ein gefälligeres Lied einzustudieren. Der Leiermann der „Winterreise“ rief verschiedene Assoziationen bei Interpretatoren hervor: Ist er der Tod am Ende der Wanderung? Hoffnungslosigkeit? Der letzte verbleibende Ausweg in die Kunst? Metareflexive Abrechnung mit ebendieser?
Der Tod ist omnipräsent in dem Text, so dass die von Jelinek aktualisierte Version des Leiermannes durchaus als ebendieser verstanden werden könnte. Ihr Lied aber, das „schon vor Jahrzehnten niemand hören wollte“, das sie aber gerade deshalb weitersang, das sie auch jetzt weitersingen wird, nicht zuletzt mit diesem Text, obwohl sie stört: „
Ich weiß, dass Sie das schon nicht mehr hören können. Sie haben es mir ja oft genug gesagt, aber ich kann halt nichts Anders.“ […] „Was ist Ihre Sprache überhaupt, was für ein Zeug ist das, alles aus zweiter, dritter Hand!, denn Ihre eigenen Hände fassen ja nichts, was für Zeugs, was für Herumgelabere“ […] „Das können Sie von uns nicht verlangen, daß wir zu Ihren fauligen Liedern, immer denselben, die vor zwanzig, vierzig Jahren schon niemand mehr hören wollte, Ihre Leier auch noch drehn!“ […] „Unsere Lieder sind viel schöner!“ Was Sie reden leerer Schall, Sie sind eine Fremde überall.“

Scheint dies nicht vielmehr Kampfansage und Selbstvergewisserung einer „Problemautorin“, auch ein Kommentar zum Schreiben, zu ihrer „parasitären“ Poetik, zum politischen Schreiben zu sein, das über den Tod hinaus hörbar sein wird?

Elfriede Jelinek Winterreise
Ein Theaterstück.
Reinbek: Rowohlt, 2011.
128 S.; geb.
ISBN 978-3-498-03236-4.

Rezension vom 09.06.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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