#Essay

Willkommen in meiner Wirklichkeit!

Hans Platzgumer

// Rezension von Eva Maria Stöckler

„Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ fragte schon im Jahr 1976 Paul Watzlawick in einem Buch, das sich rasch zu einem Bestseller entwickeln sollte. Dass diese Frage bereits vor der Digitalisierung aller Lebensbereiche gestellt wurde, die mit einem Schlag die analoge in eine digitale Wirklichkeit verwandelte, alles, was uns umgibt, in Nullen und Einsen zerlegte, und damit alles in alles verwandeln ließ, scheint heute gerade zu visionär. Die virtuelle Wirklichkeit vermag ein getreues Bild der wirklichen Wirklichkeit abzubilden, sodass es beinahe unentscheidbar wird, welche der vielen möglichen Wirklichkeiten die wirkliche, die reale ist.

Die Folgen dieses Transformationsprozesses, der bereits zur Zeit des Erscheinens von Watzlawicks Buch begonnen hatte, werden nun immer dramatischer sichtbar. „Ich weiß, dass ich nichts glauben kann. Da ich aber irgendetwas glauben muss, weil ich mich sonst in der Nichtigkeit meiner Existenz verliere, bleibt mir nur ein Ausweg: Ich glaube alles, was mir glaubhaft erscheint.“ (S.98) Ob aber das Glaubhafte das Reale ist, ist unwichtig, solange es nur glaubhaft ist. Und wenn es nur mir glaubhaft erscheint.

Hans Platzgumer, „spätberufener“ Schriftsteller, dem es als einem von wenigen Österreichern gelang, eine internationale Musikkarriere zu starten, heißt seine Leserinnen und Leser in seiner Wirklichkeit willkommen: eine Einladung, die Welt zu betreten, die auf seiner eigenen höchst subjektiven Wahrnehmung beruht, einer Wahrnehmung, die zwar die „furchteinflößenden“ Auswüchse des Realen wahrnimmt, aber dabei die Schönheit des Seins, der Natur und der Menschlichkeit nicht aus den Augen verliert, sondern sie dorthin zurückholt, von wo sie, verscheucht von der Fragwürdigkeit und Beliebigkeit des Virtuellen, verschwunden ist: in unser aller Bewusstsein. Denn „das Gegenteil von Schönheit ist nicht Hässlich-, sondern ‚Wurschtigkeit'“. (S.16).

Es geht ihm nicht um die „großen erkenntnistheoretischen Fragen“, „nicht um die Fraglichkeit der Wirklichkeit an sich“, es geht ihm um die „Praxis: die Dinge an sich.“ „Meine Wahrnehmung der Wirklichkeit wird jener anderer Menschen mal mehr, mal weniger ähneln. Jeder hat seine eigenen Orte, Unorte, Zeiten, Unzeiten.“ (S.9) Durch diese sehr persönliche Sicht der Dinge führt ein Song von John Lennon, den dieser im Jahr 1968 für Prudence Farrow, die Schwester der Schauspielerin Mia Farrow schrieb, als diese im nordindischen Aschram des Gurus Maharishi in Rishikesh einen Ausweg aus ihrer Depression suchte und sich, anstatt in die Welt zurückzufinden, mehr und mehr in Meditation und Traum verlor.

Dear Prudence
Won’t you come out and play
Dear Prudence
Greet the brand new day.

Diese Zeilen sind dem Buch vorangestellt und begegnen uns immer wieder als roter Faden, der durch das Labyrinth der vielen Erinnerungen und Geschichten hindurch leitet. Platzgumer durchstreift mit einer bemerkenswerten Offenheit und Neugierde eine ganze Reihe von Welten und Wirklichkeiten, er reist durch das New York der 1980er Jahre, durch die Stadt Innsbruck seiner Jugend, durch Nordindien, er erinnert sich an Star Trek, die Katastrophe von Tschernobyl und den Film „The Mask“, dessen Sujet das Buchcover ziert.

Er entdeckt in diesen Welten Gutes und Schlechtes, kritisiert die Gleichgültigkeit der Menschen und deren „digitale Demenz“, sinniert über die Vergänglichkeit von Schönheit und die Unmöglichkeit, den Augenblick, in dem sich das Schöne zeigt, festzuhalten. Und er sehnt sich nach jener utopischen Gegenerzählung, die so dringend notwendig ist, um die Parallelwelten, in denen es sich die Menschen gemütlich gemacht haben, wieder ohne Angst verlassen zu können – „eine allzu wirklich wirkende Welt ist furchteinflößend“. Dabei geht es ihm nicht darum, die Widersprüchlichkeiten des Lebens zu verdecken oder die Technisierung zu verteufeln: „Wir müssen uns, von unserem Jetzt ausgehend, danach sehnen, irgendwo hinzukommen. Das Leben ist nichts ohne Ziel. Dieses Ziel muss nicht unbedingt erreichbar sein, aber es muss der Gegenwart einen Sinn geben.“

In neun Kapiteln geht Platzgumer zunächst „Draussen spielen“, taucht in das „Schöne der Welt“ und danach in die „Virtual Reality“ ein, begibt sich in die „hyperventilierende Gesellschaft“, dann auf „Zeitreisen“, sitzt in Stille, arbeitet, und mit einem „Wimpernschlag“ ist die „Entwirklichung“ der Welt erreicht. In seinem 50. Lebensjahr unternimmt er einen Rundblick voller Hoffnung und Zuversicht. Reisebegleiter sind neben John Lennon unter anderem Platzgumers Mutter Eva und der Grafiker Stefan Sagmeister, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Nietzsche, Aristoteles, Papst Franziskus und Otto Waalkes, Guy Debord und Roland Barthes, aber auch Donald Trump und eine indische Kurzschwanzgrille, alle in kleinen Grafiken von Christoph Abbrederis ins Bild gesetzt.

Letztlich ist dieses Buch auch eine Liebeserklärung an die Schriftstellerei: „Schreiben heißt abheben. Der Autor irrealisiert die Welt. Utopisches ist für ihn nicht länger undurchführbar. Unmögliches ist möglich.“ (S.90) Das Schreiben wird dabei weniger zur Flucht aus der Realität, sondern zur Möglichkeit, sie anders zu denken und neu zu gestalten. „Es mag durchaus stimmen, dass sich der Dichter gebärdet, als wäre er die große Weltenspinne selber. Er bietet die Wirklichkeit als Möglichkeit an und ebenso die Möglichkeit als Wirklichkeit.“ (S.91) Von Vertrauen auf die Möglichkeiten des Wortes ist dieses Buch getragen: „So mag der Schriftsteller also noch so ein Betrüger, Schwindler, Erfinder sein; er ist Wirklichkeitsmensch.“ (S.117) und hebt sich damit wohltuend von den vielen Dystopien und Untergangszenarien ab, die heute den Diskurs bestimmen. Er lenkt, ohne zu beschönigen oder das eigene schlechte Gewissen beruhigen zu wollen, den Blick darauf, dass eine Veränderung möglich ist. „Wer sich für die Verbesserung der Welt einsetzt, muss die Schönheit des Augenblicks erkennen können.“ (S.13)

Hans Platzgumer Willkommen in meiner Wirklichkeit
Essay.
Mit Illustrationen von Christoph Abbrederis.
Wien: Milena, 2019.
120 S.; geb.
ISBN 978-3-903184-43-5.

Rezension vom 10.10.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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