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Will Eisner - Graphic Novel Godfather

Alexander Braun

// Rezension von Martin Reiterer

„Es hat Grenzen und Eigenschaften, es hat eine Grammatik, es hat klare Regeln, es hat Einschränkungen und Möglichkeiten – Möglichkeiten, die noch nie jemand wirklich berührt hat.“ (5) Die Rede ist vom Medium Comic. Der Autor dieser Worte ist Will Eisner (1917–2005). Von ihm stammt die inzwischen weit verbreitete Bezeichnung „Graphic Novel“, die er 1978 seinem Band A Contract with God / Ein Vertrag mit Gott, bestehend aus vier miteinander verbundenen grafischen Erzählungen, voranstellte.

Was heute weitgehend Mainstream ist, war vor gut 40 Jahren noch ein wagemutiger Vorstoß: Die Behauptung, dass das Medium Comic mit seinen spezifischen Ausdrucksmitteln – genauso wie die Literatur und der Film – die Fähigkeit zum Erzählen besitzt, war zugleich die Behauptung der Eigenständigkeit und Einzigartigkeit des Mediums, die Eisner zeitlebens geradezu beschwor und wiederholt theoretisch begründete. Der US-amerikanische Zeichner ist mit der Geschichte des Comics verbunden wie kaum ein anderer. In seinem Lebenswerk hat er viele Möglichkeiten des Mediums ausgelotet, vorgegebene Grenzen erweitert und umgestoßen und neue Spielräume eröffnet.

Der deutsche Künstler, Kurator und Comicexperte Alexander Braun hat mit dem Band Will Eisner – Graphic Novel Godfather nicht nur eine Monografie des Pioniers, Visionärs und Erneuerers des Comics geliefert. Der umfangreiche Katalog im Hochformat ist mit zahlreichen Abbildungen, Fotos, Archivbeiträgen bis hin zu vollständigen Comicepisoden versehen und liest sich wie eine Kulturgeschichte des Comics im 20. Jahrhundert. Braun selbst ist in den letzten Jahren für seine vorbildlich gestalteten und kommentierten Ausgaben früher Zeitungsstrips von Winsor McCays Little Nemo (2014) und George Herrimans Krazy Kat – Die kompletten Sonntagsseiten in Farbe – 1935-1944 (2019) zweimal mit dem „Eisner-Award“ – dem „Oscar“ der US-amerikanischen Comicbranche – ausgezeichnet worden.

Dass Eisners Wurzeln nach Österreich führen, ist wenig bekannt, aus mehrerlei Gründen aber interessant. Sein Vater Shmuel Eisner stammte aus „Kollmei, einem jüdischen Stetl am nördlichen Rand von Wien“ (21), kam um 1900 nach Wien und verdiente sich seinen Unterhalt als Kunstmaler. Nicht nur, dass Eisner seinem Vater in der autobiografischen Graphic Novel Zum Herzen des Sturms / To the Heart of the Storm (1991) ausführlich Raum gibt, jüdische Themen, die offenbar auch die (Vor-)Geschichten seiner Eltern betreffen, durchziehen sein gesamtes umfangreiches Werk. Shmuel Eisner verlässt Europa vor dem Ersten Weltkrieg, um dem Krieg zu entgehen, in New York wird er als Sam Eisner eine rumänischstämmige jüdische Frau aus ärmlichen Verhältnissen, Fannie Ingber, heiraten. 1917 kommt William Erwin Eisner zur Welt.

Während Will Eisner bereits in seiner Kindheit zum familiären Unterhalt beitragen musste, erkannte und förderte sein Vater das Talent seines Sohnes. Für ein Studium reichte das Geld nicht, immerhin besuchte er Kurse an der renommierten „Art Students League School“ in New York. Mit 19 waren die Lernjahre vorbei, die Lehrjahre jedoch begannen für Eisner erst. Nach ersten Auftragsarbeiten für diverse Zeitungen und unter dem Druck der Geldbeschaffung, gründete der von Unternehmungsgeist beflügelte junge Zeichner zusammen mit Samuel Maxwell Iger das Studio „Eisner & Iger“. Illustre Mitarbeiter wie Robert Kahn aka Batman-Erfinder Bob Kane und Jacob Kurtzberg aka Captain America-Miterfinder Jack Kirby haben hier ihre ersten Auftritte. Noch vor dem Auftauchen der Superheldencomics im Jahr 1938 war Eisner an der Entwicklung neuer Publikations- und Vertriebsformen beteiligt. Schon bald wird das Format der großen Zeitungsstrips durch die Comic-Hefte in den Hintergrund gedrängt. Noch in den 1930er Jahren erzielt Eisner nicht nur beachtliche finanzielle Erfolge, sondern schafft sich auch einen nachhaltigen Ruf.

Doch erst das Angebot, für Everett M. „Busy“ Arnolds „Quality Comic“ zu arbeiten, eröffnet dem 23-Jährigen völlig neue Aussichten. Erstmals kann er für ein anspruchsvolles erwachsenes Publikum zeichnen und eigene künstlerische Akzente setzen. Ab nun produziert er unter anderem regelmäßig ein Comic-Heft als Zeitungssupplement. Zugeständnisse an Action und Anleihen von Superhelden, die soeben das Goldene Zeitalter der Comic-Hefte ausgerufen haben, sind inbegriffen. Aber Eisners Held Denny Colt alias „The Spirit“, ein Detektiv, mit blauem Anzug und Augenmaske, ist schon mal am Papier. Von 1940 bis 1952 zeichnet Eisner 645 Spirit-Folgen, stilistisch „zwischen atmosphärisch ausdrucksstarkem Hard-boiled-Realismus und satirischer Überzeichnung“ (108) changierend. Dass am Anfang noch keine „große Comic-Kunst“ steht, schmälert die Leistung des Zeichners nicht. „Eisner musste sich seine Meisterschaft erarbeiten.“ (56) Und genau das geschieht im kommenden Jahrzehnt, das der Spirit-Erfinder für extensive formale Experimente mit dem Medium nutzt, auf der Ebene der Panelgestaltung und Seitenarchitektur ebenso wie auf der Ebene von Typografie und Lettering. Dabei nimmt der Erzähler Eisner seine Figuren stets ernst, begründet ihre Handlungen aus ihnen selbst und ihrem sozialen Hintergrund heraus. Braun veranschaulicht den Werdegang des Comic-Künstlers anhand zahlreicher Beispiele und Kontextualisierungen. Um Eisners „Ausnahmeleistungen“ zu würdigen, bedarf der Autor keiner Lobhudeleien, seine Hommage weckt das Interesse vielmehr durch differenzierte Analyse. „Eisners oberstes Verdienst ist nicht, der beste Zeichner des Jahrhunderts gewesen zu sein, sondern seinen Comic zu einem Laboratorium gemacht zu haben“, heißt es da. „Eisners Spirit war für das Medium Comic eine Art Grundlagenforschung, gekrönt von genialen Momenten.“ (110)

In Eisners künstlerischem Lebenslauf fallen einige Unterbrechungen auf. Zwischen 1942 und 1945 folgt er seiner Einberufung in den Krieg. Aufgrund seines Talents wird er allerdings damit betraut, Handbücher für die Soldaten des Zweiten Weltkriegs zu zeichnen. Ausgerechnet auf diesen Posten der U.S-Armee wird Eisner Anfang der 1950er Jahre zurückgeholt, diesmal um pädagogische Comics (Gebrauchsanweisungen, Wartungsanleitungen etc.) für das amerikanische Verteidigungsministerium anzufertigen, wie etwa PS – The Preventive Maintenance Monthly. Dass dies dem Spirit-Autor in Anbetracht der US-amerikanischen Kriegshandlungen in Korea und später in Vietnam auch Kritik aus den eigenen Reihen einbringen sollte, ist zu erwarten, dass sich in Eisners Darstellungen allerdings niemals auch nur im Ansatz kriegstreiberische Aspekte finden und der Zeichner „immer auf Seite der Soldaten und nicht des Pentagons“ (180) stand, macht Braun glaubhaft.

Tatsächlich war Eisner an die zwanzig Jahre wie von der Bildfläche verschwunden. Angesichts des Siegeszugs des Fernsehens in den US-amerikanischen Haushalten, verloren die Comic-Beilagen in den Zeitungen an Attraktivität, während ein Feldzug gegen die Comic-Hefte immer mehr an Intensität gewann und schließlich 1954 zu dem berüchtigten Zensur-Code führte. Von seinem neuen Auftraggeber dagegen erhielt Eisner, der auch eine Familie zu ernähren hatte, ein solides Einkommen.

Umso größer war die Überraschung, als Eisner Anfang der 1970er Jahre erneut den Anschluss an die Comicszene fand. Inzwischen hatte sich die Branche fundamental verändert. Eine Generation von Zeichnern und Zeichnerinnen hatten sich ungeachtet der Zensurbestimmungen das Medium zu eigen gemacht, es aus der Umklammerung des Superheldengenres befreit und damit begonnen, es für völlig eigene Anliegen zu nutzen. Der Comic war endlich erwachsen geworden. Damit einhergehend suchte die Underground-Generation ihre Unabhängigkeit von der herkömmlichen Comic-Industrie, in der Zeichner kaum Rechte hatten, in eigenen Vertriebssystemen und Vermarktungsstrukturen. Auch der Autorencomic war geboren. Eisner, selbst einer der ersten, die sich die Eigenständigkeit innerhalb der Branche bewahrten, erlebte in der jugendlichen Szene, die vor Begeisterung, vor Ideen und neuen Ansätzen sprühte, eine Art Wiedergeburt. Nicht nur wurde der Autor des Spirit, der in den 1960er Jahren als Geheimtipp galt, nun als Star gefeiert. Die Synergien waren offenbar wechselseitig. Eisners Verbindungs- und Vermittlungsmann zur neuen Szene war der Mitte zwanzigjährige Zeichner und Verleger Denis Kitchen. In dessen Verlag Kitchen Sink Press wurden nun sämtliche Spirit-Folgen wieder zugänglich gemacht. Dass Eisner sogar einige neue Folgen schrieb, die heute unter dem Stichwort „Underground-Spirit“ laufen, deutet an, wie sehr der vergleichsweise „alte Mann“ auf Impulse der jungen Undergroundszene ästhetisch offen reagierte, ohne allerdings sich anzubiedern. Daneben gab er mit Kitchen nun auch ein Spirit-Magazin heraus, in dem Platz für theoretische Auseinandersetzung und Künstlergespräche, so genannte „Shop Talks“ war. Das „zarte Pflänzchen Comic-Diskurs oder Comic-Geschichtsschreibung“ (229) begann zu sprießen.

Eisner, der inzwischen eine Lehrstelle an der „School of Visual Arts“ in New York innehatte, betrat damit auch als Comic-Theoretiker Neuland, der das Medium als „sequenzielle Kunst“ greifbar zu machen versucht. Noch vor Scott McClouds Standardwerk Understanding Comics: The Invisible Art (1993) erscheint Eisners Theorie des Mediums Comics and Sequential Art / Mit Bildern erzählen – Comics & Sequential art (1985), auf das Graphic Storytelling and Visual Narrative / Grafisches Erzählen (1995) folgen wird und schließlich posthum ein weiteres Lehrbuch: Expressive Anatomy (2008). Doch noch eine weitere Tür hat sich für den Visionär eines ästhetisch eigenständigen, grafisch-erzählerischen Mediums aufgeschlagen. Nachdem er sich – aufgrund seiner komfortablen finanziellen Lage – von allen diesbezüglichen Verpflichtungen verabschiedet hatte, widmete sich Eisner, angefeuert durch die aktuellen Entwicklungen, seiner Herzensangelegenheit – der Graphic Novel. Ein Vertrag mit Gott und andere Mietshaus-Stories aus New York war nicht die erste Graphic Novel. Eine solche Behauptung wäre „gut gemeint, aber irreführend in der Begrifflichkeit“: „Man kann etwas Hybrides wie die Graphic Novel nicht ‚erfinden‘.“ (241) Braun verfolgt stattdessen den Weg des grafischen Erzählens im aktuellen Sinn zurück bis ins Jahr 1917, zu den reinen Bilderzählungen Frans Masereels (1889–1972) und Lynd Wards (1905–1985), zu Harvey Kurtzmans Jungle Book (1959) oder eben zu den autobiografischen Erzählformen der Underground-Zeichner wie Robert Crumb und Justin Green, bei denen allerdings die Provokation im Vordergrund stand. „Eisner ist dagegen der Erste, der sich bemühte, radikale Wahrhaftigkeit (selbst gegenüber der eigenen Familiengeschichte) in eine literarische Form zu gießen: weniger Publikums-Affront, mehr Stilmittel. So wurde er zum Begründer einer Tradition, die in Werken wie Art Spiegelmans Maus, A Survivor’s Tale (1980–1991), Howard Cruses Am Rande des Himmels (1995), Craig Thompsons Blankets (2003) oder Alison Bechdels Fun Home (2006) mündet: autobiografisch, aber nicht autovoyeuristisch. Wenn das die Charakteristika einer Graphic Novel sind, dann war Eisner tatsächlich der Erste.“ (256)

Eisners Erzählungen sind in New York angesiedelt, in den Mietshäusern der Bronx, und spielen in den 1930er Jahren, als die Folgen des Börsenkrachs und die Wirtschaftskrise besonders heftig zuschlugen. Seine Protagonisten sind jüdische Immigranten, die je nach Herkunft vom europäischem Ost- oder Westjudentum unterschiedlichen sozialen Schichten angehören. Es sind die Themen, die der Autor aus erster Hand kennt, seine eigenen Erfahrungen aus Kindheit und Jugend erweisen sich auch in den folgenden – nahezu zwanzig – Graphic Novels als seine Stärke. Berühmt ist der Schauplatz der (fiktiven) Dropsie Avenue, dem Eisner drei seiner grafischen Erzählwerke widmet, neben Ein Vertrag mit Gott sind das die von vielen Kritikern als die beste angesehene Graphic Novel A Life Force (1983–1986) und die Comic-Erzählung mit dem programmatischen Titel Dropsie Avenue (1995). Dass der Zeichner in der Titel-Erzählung von Ein Vertrag mit Gott auch ein äußerst schmerzliches Schicksal, das seiner an Leukämie verstorbenen 16-jährigen Tochter, abhandelt, ist bis heute wenigen Leserinnen und Lesern bekannt, lässt die Erzählung allerdings in einem neuen Licht erscheinen.

In Anbetracht seiner laizistischen Einstellungen ist Eisners Einsatz für jüdische Anliegen bemerkenswert, erklärt sich jedoch als Engagement für Aufklärung. Zwei Jahre vor seinem Tod beeindruckt der Zeichner mit einer künstlerischen Intervention gegen die Darstellung der fiktiven Gestalt Fagin in Charles Dickens Roman Oliver Twists. Der jüdische Hehler Fagin wird darin als hassenswürdiger Bösewicht mit eindeutig antisemitischen Zügen beschrieben. Doch statt etwa den Autor Dickens zu attackieren, der seinen antisemitischen Fehlgriff übrigens selbst eingestand, erzählt Eisner in Fagin the Jew / Ich bin Fagin die Vorgeschichte der Figur und lässt sie am Ende mit ihrem Autor Dickens in einen Dialog treten. Schließlich erscheint 2005, als eine Art aufklärerisches Vermächtnis, der Sach-Comic The Plot – The Secret Story of the Protocols oft the Elders of Zion / Das Komplott – Die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion. Darin rekonstruiert der Zeichner die Geschichte der Entstehung und Entlarvung jener Protokolle der Weisen von Zion, eines der einflussreichsten antisemitischen Pamphlete zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Die beiden Graphic Novels wurden in zwei der bedeutendsten New Yorker Literatur- und Sachbuchverlage herausgebracht: Fagin the Jew bei Doubleday und The Plot beim Verlag W. W. Norton & Company, der außerdem alle anderen Graphic Novels Eisners in sein Programm übernahm. Das war ein deutliches Signal der künstlerischen Wertschätzung: Endlich wird dem Medium Comic mit all seinen unerschöpflichen erzählerischen Möglichkeiten die volle Anerkennung gezollt, die es verdient, und Eisners Lebenswerk der gebührliche Tribut.

Alexander Braun Will Eisner – Graphic Novel Godfather
Sachbuch.
Berlin: avant-verlag, 2021.
384 S.; geb.; m. Abb.
ISBN 978-3-96445-050-0.

Rezension vom 14.07.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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