#Roman
#Debüt

Wilde Jagd

Christian Lorenz Müller

// Rezension von Sabine Schuster

Tapfere Sqaws und starke Männer bevölkern das Romandebut des Salzburger Autors Christian Lorenz Müller, und obwohl Karl May darin eine gewissen Rolle spielt, kämpfen Müllers Figuren mehr gegen hausgemachte Dämonen denn gegen äußere Feinde. Der Buchtitel Wilde Jagd, Heugabel und Sense auf dem Umschlag und die absichtsvoll schwerfällige Sprache verankern das Geschehen fest im Alpenraum, auch der Name des Helden hat tiefe lokale Wurzeln: Emmeran – wohl nach dem heiligen Emmeram von Regensburg, einem Märtyrer des siebten Jahrhunderts, der in der Geschichte unerwähnt bleibt, dessen Schicksal aber wohl kaum zufällig in den aktuellen Roman hineinspielt.

Das ländliche Leben, Denken und Sprechen (oder vielmehr Nicht-sprechen) scheint dem 1972 im bayrischen Rosenheim geborenen Autor und Trompetenbauer Christian Lorenz Müller sehr vertraut zu sein. Man fühlt sich an manches erinnert, ein wenig an Franz Innerhofers Anti-Heimatroman „Schöne Tage“ von 1974 und ein wenig auch an Reinhard Kaiser-Mühleckers Debut „Der lange Gang über die Stationen“, das 2008 ebenfalls bei Hoffmann und Campe erschienen ist. Immer wieder geht es in diesen Texten um die Sprachlosigkeit der Landbevölkerung, die stille Konzentration auf Wald, Feld und Vieh, die Macht von Tabus, die Langsamkeit der Menschen, deren Denken und Fühlen unsichtbar mit dem Kreislauf der Natur verbunden scheint.
Während jedoch bei Franz Innerhofer oder auch Josef Winkler das Bauernleben unbarmherzig und lebensfeindlich ist, eine Leibeigenschaft, der es mit allen Mitteln zu entkommen gilt, widmen sich die jüngeren Autoren dem Thema ohne diesen Leidensdruck. Sie beobachten mit Empathie und einer gewissen Faszination, wie diese immer noch archaische Gegenwelt zur Stadt mit ihren flirrenden Aktienkursen funktioniert.

Christian Lorenz Müller verwendet für dieses unmittelbare Leben kräftige poetische Bilder, trotzdem ist es keine reine Idylle, die er beschreibt:
„Das Motorengeräusch klingelte in Emmerans Ohren nach. Er blieb einen Moment lang sitzen und blickte durch einen kleinen Kahlschlag hinunter in den Talgrund. Dort trieb der Wind Wolkenschatten zusammen, grauwollige Zottelwesen, die langsam ins Österreichische hinüberzogen.“ (S.7)
Emmeran und sein Neffe Johannes, die zentralen Figuren der Geschichte, sind in ihrer rauen Umgebung ungewöhnlich herzlich miteinander verbunden, viel herzlicher als Vater und Sohn. Emmeran lebt als Junggeselle auf dem Hof des Bruders, mit dessen Frau Burgl und den drei Söhnen, und diese Konstellation sorgt bei aller Behaglichkeit auch für greifbare Spannungen.

Der Roman beginnt mit einem tragischen Unfall bei der Waldarbeit, der junge Johannes überlebt nur knapp und landet mit schwersten Kopfverletzungen im Spital. Emmeran, der ihn mitgenommen hatte, fühlt sich auf vielerlei Weise schuldig, und die Zeit der Rehabilitation, in der die Handlung der Geschichte verankert ist, wirft eine ganze Reihe existenzieller Fragen auf: Warum schnitzt Emmeran derartig düstere Masken, und warum spricht er kaum das Notwendigste? Was wollte Johannes ihn fragen, als der Unfall passierte? Was steht zwischen den Brüdern Hans und Emmeran, die durch ihre schwere gemeinsame Kindheit symbiotisch miteinander verbunden sind?
Wir erfahren bruchstückhaft, dass die Mutter früh gestorben ist, der Vater war alkoholkrank und gewalttätig. Eines Tages reißen die Buben aus, sie wollen zur Tante nach Rosenheim und geraten unterwegs in einen furchterregenden Perchtenlauf. Später führen die Brüder mit der Großmutter den Hof, während der Vater völlig dem Alkohol verfällt und stirbt. Als junge Männer lernen sie die resolute rothaarige Burgl kennen, nach einer Kirtagsschlägerei sorgt sie für Ordnung, verarztet die beiden und lädt sie zum Tanz ein.
Was sich danach entspinnt, bleibt 16 Jahre lang ein gut gehütetes Familiengeheimnis, bis sich der Sohn bzw. Neffe Johannes nach seinem Unfall nicht mehr in diese Übereinkunft fügt. Die bleibende Narbe auf der Stirn, um die ihn seine Brüder beneiden, markiert gut sichtbar seine Ausnahemstellung in der Familie und verleiht ihm ein neues Bewusstsein und einen geschärften Blick. Die Genesung wird zum Prozess persönlicher Reifung und zur Initiation ins keineswegs perfekte Erwachsenenleben.

Hilfe in jeder Hinsicht bekommt der Bub – und mit ihm auch Emmeran – von der Krankenschwester Katja, die nun wöchentlich auf den Moosbichl-Hof kommt und das Problem der Familie intuitiv erkennt. Sie sorgt im allerbesten Sinne für frischen Wind, ganz nebenbei auch für Spaß, der hier sonst keinen Platz hat. Katja steigt nicht nur lausbübisch mit einer Leiter in Emmerans Schlafkammer ein, sie erobert die ganze Familie mit ihrer Offenheit und Lebensfreude – zum Glück kennt sie alle Bücher von Karl May und ist auch im Tipi, das Emmeran für seine Neffen gebaut hat, ganz richtig am Platz. Obwohl blond, blauäugig und aus dem (deutschen) Osten – Katja wäre eine gute Squaw gewesen, darin sind sich die Männer sofort einig!
Für Emmeran beginnt in Katjas Umarmung das Leben völlig neu: Zaghaft erinnert er sich, wie es damals war, als er und Hans den Fuchs gejagt haben, aus dem Fuchspelz wollten die Brüder einen schönen Schal machen lassen, mit dem der Vater eine Frau auf den Hof hätte locken sollen… Emmeran findet in dieser letzten Szene, die stark märchenhafte Züge hat, nach langer Zeit endlich zu sich selbst. Die Masken und die „Wilde Jagd“ haben ihren Dienst getan, und ausgerechnet der heftig pubertierende Neffe Max, der angeblich nichts als Unsinn im Kopf hat, rückt die Kunstwerke Emmerans auch äußerlich zurück an ihren angemessenen Platz:
„(…) jemand kam über die Stiege in die Garage herab, und als Emmeran sich umwandte, schepperte eine große Percht ins Freie. Der Mittlere war das, von Fellen umzottelt riss er die Fackeln vom Frontlader des Fendts und sprang in Richtung Asphaltstraße davon. (…) ‚Der Max ist das. Er trifft sich bestimmt mit seinen Freunden.‘ Emmeran wusste nicht recht, was er davon halten sollte, dass der Mittlere mit einer Larve vor dem Gesicht auf dem Weg hinunter ins Dorf war, erinnerte ihn das doch an die Zeit, in der Hans und er ganz ähnlich aufgeputzt durch die Raunächte gezogen waren.“ (S.243)

Die Erdschwere, die über diesem Roman lastet, ist anfangs erdrückend und soll es wohl auch sein. Schwerfälligkeit und Konzentration auf äußere Verrichtungen und Gegebenheiten gehen Hand in Hand mit einem ganz bestimmten Sprachmuster, mit einer auffälligen Inversion der Sätze. Immer wieder stellt der Autor Teile des Prädikats an den Satzanfang und verleiht ihnen auf diese Weise ungewohntes Gewicht: „Konzentrieren musste er sich“, „Gas gab Emmeran“, „flacher wurde es“, „fragen muss ich dich was“ (S.7f) Der Rhythmus, der sich daraus ergibt, hat durchaus Entsprechungen in der Mundart, in gedruckter Form wirkt diese systematische Umkehrung doch manchmal recht theatralisch.
Spannend zu lesen ist Christian Lorenz Müllers bäuerlicher Entwicklungsroman trotzdem und nach ein paar Seiten fällt es ganz leicht, aus der Zeit zu fallen und sich auf diese so nahe und doch so ferne dörfliche Erlebniswelt einzulassen.

Christian Lorenz Müller Wilde Jagd
Roman.
Hamburg: Hoffmann und Campe, 2010.
256 S.; geb.
ISBN 978-3-455-40289-6.

Rezension vom 20.12.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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