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Wild Card

Claudia Sammer

// Rezension von Christina Vettorazzi

In Claudia Sammers neuestem Roman ist der Titel Programm: Wild Card erschien im Braumüller Verlag und thematisiert ein „überraschendes Ereignis mit massiven Auswirkungen“ (126). Betroffen sind natürlich viele Menschen, doch im Rahmen dieses Buchs bedenkt die Autorin vor allem vier Lebenswelten. Dass dieser Text in der Zeit von globalen gesellschaftspolitischen Umbrüchen, SARS-COV-2 und der Klimakrise publiziert wurde, ist wohl kein Zufall.

New York im September

Fast könnte man es romantisch finden: Zwei Menschen lernen sich in New York kennen und flanieren nachts gemeinsam durch die Straßen der Großstadt. Leider ist in dieser Erzählung kurz zuvor die titelgebende „Wild Card“ eingetreten. Es ist der 11. September 2001, als sich die beiden begegnen. Die Straßen von New York sind dementsprechend leer. Nur wenige verirren sich in so einer Zeit in die Außenwelt. Darunter Ned und Klara. Fremdartigkeit lässt sich plötzlich überall erkennen und obwohl die beiden Figuren gemeinsam unterwegs sind, scheint jeder mit seiner eigenen Geschichte allein zu sein. Zudem treten Ängste und Bedürfnisse in den Vordergrund, die in der westlichen Gesellschaft nur selten sichtbar werden. Nicht zwangsläufig, weil sie nicht existieren. Claudia Sammer nimmt in Wild Card Leben und Tod unter die Lupe. Der Zusammenhang wird ergründet und gleichzeitig werden die Fragen aufgeworfen: Wer entscheidet über das Sein und Bleiben? Und wie entfaltet sich das Entstehen im Rahmen einer „Wild Card“?

„Sicherlich lägen auch in diesem Augenblick Frauen in den New Yorker Krankenhäusern in den Wehen. Er frage sich, ob eine Geburt unter dermaßen außergewöhnlichen Umständen den Lebensweg der Neugeborenen beeinflussen würde. In die Welt kommen, während wenige Straßen weiter Tausende gehen.“ (24)

Der fantastische Raum

Tatsächlich scheint es so, dass diese Umstände das Leben von zumindest einem Jungen beeinflussen: Wenige Minuten nachdem der Nordturm des World Trade Centers eingestürzt ist, wird Totte geboren. Sein Leben steht im Zeichen dieses Ereignisses. Innere Ruhe findet er in der Faszination des Weltalls und so wird seine große Leidenschaft die Suche nach Sternenstaub. Seine Familie hat dafür kein Verständnis. Auch er ist allein und das Interesse an den Sternen nimmt extreme Ausmaße an. So kommt es, dass er einmal aus einem See geborgen werden muss. Die familiäre Struktur ist daraufhin erschüttert und seine persönliche Freiheit wird stark eingeschränkt. Die Geschichte von Totte bleibt bei der Lektüre ein wenig unscharf. Hintergründe von Handlungen sind schwer nachzuvollziehen. Anders verhält es sich bei den Erzählungen über Ned und Klara. Mithilfe von Beschreibungen der Vergangenheit wird den beiden Charakteren Tiefe verliehen. Eine gewisse ungeklärte Verträumtheit steckt jedoch auch in diesen Erzählsequenzen. Vor allem äußert sich diese in den Dialogen. Bereits auf den ersten Seiten des Buches wird klar, dass diese Konversationen so nicht stattgefunden haben können – auch nicht in einer Ausnahmesituation.

„Ich sage, ich kenne dich nicht, er antwortet, auch das sei gut, dann könnten wir uns nichts vormachen, könnten unsere Koordinaten mit jenen der Stadt verknüpfen und neu abstecken, die Koordinaten der Schluchten, in denen Gespenster von den giftigen Ruinen her wehen.“ (8)

Ein kleines Stück Lösung

Diese beschriebene Abstraktheit ist zugleich jedoch auch ein Markenzeichen der Autorin von Romanen wie Ein zögerndes Blau und Als hätten sie Land betreten (beide ebenfalls im Braumüller Verlag). Obwohl das neueste Werk von Claudia Sammer ein wenig mehr Bodenhaftung vertragen hätte können, mangelt es nicht an spannenden Gedanken und mutigen Äußerungen. Gerade im Hinblick auf die Klimakrise bezieht die Autorin eine klare Stellung und liefert sogar Überlegungen zu Lösungsansätzen. Das Zauberwort heißt in diesem Fall „Urban Gardening“. Dabei kann nicht nur der Boden bebaut werden. Auch Dächer werden bepflanzt. Ein Gedanke abseits der Norm, der auch einen Ausblick auf ein mögliches gutes Ende gibt – nicht nur im Roman:

„Man könne Pilze in Kaffeesud ziehen und aus Pilzmyzel hochwertiges Baumaterial gewinnen, man könne Fleisch rein pflanzlich substituieren, man könne auf jedem Balkon Sonnenstrom erzeugen, schicke Kleidung aus Altplastik zaubern und bei der Internetsuche Bäume pflanzen. Die Konsumdecke und der Wohlstandsmüll würden nicht mehr ganz so hell glänzen, man könne tatsächlich an eine bessere Welt glauben.“ (127/128)

Wild Card ist eine Geschichte über das Unbekannte, über Bedrohung, Verlust, aber auch Freundschaft, Liebe und Hoffnung. Wo ein Ende ist, ist auch ein Anfang und wo es Probleme gibt, können Lösungen gefunden werden – so der Eindruck den Claudia Sammers Roman hinterlässt.

Wild Card.
Roman.
Wien: Braumüller Verlag, 2021.
176 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-99200-307-5.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 20.09.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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