#Roman

Wiener Kreuzweg

Andreas Pittler

// Rezension von Erkan Osmanovic

„Ideologien neigen dazu, unversöhnlich zu sein. Selbst in einer Stadt wie Wien erhärtete die Praxis diese These täglich in mannigfacher Weise.“ Bei diesen Worten handelt es sich um kein Fazit unserer heutigen Zeit. Sie finden sich vielmehr auf der ersten Seite von Andreas Pittlers neuem Roman Wiener Kreuzweg, das den ersten Teil seines Wiener Triptychons bildet. Der Name ist Programm. Wobei – um den Leidensweg Jesu oder gar dessen Nachahmung geht es nicht. Keinem einzelnen Schicksal soll nachgegangen werden, vielmehr einer Gesellschaft, einer Nation, gar einer ganzen Zeit. Und wo könnte man das besser als in Wien?

Krise, Aufbruch, Veränderung – die Schlagworte jener Zeit. Pittler spannt das Netz der Geschichte um drei Familien, die sich durch die Wirren von 1905 bis zum März 1938 kämpfen. Die einen als Gewinner, die anderen als Verlierer. Da wäre die Arbeiterfamilie Bielohlawek mit ihrem Stammvater Friedrich, der im Roten Wien seine neue Heimat gefunden hat: „Bielohlawek erinnerte sich noch gut daran, als er, gerade einmal 15 Jahre alt, anno 1900 aus Klatovy in Böhmen nach Wien gekommen war. Keine zehn Worte Deutsch hatte er damals beherrscht. Doch in den Reihen der Partei, in die er drei Jahre später eingetreten war, hatte er die Hauptsprache der Monarchie wie im Handumdrehen gelernt.“ Mit Frau und Sohn bewohnt er eine einfach Wohnung in Ottakring, arbeitet im Hernalser Bräu und fungiert dort als rechte Hand des Besitzers.

Der Besitzer des Betriebes, Baron Glickstein, stammt aus einer jüdischen Unternehmerfamilie und trauert dem alten Glanz der Monarchie nach. Im Februar 1938 blickt er mit Unverständnis in die Zeitung und verliert sich in der Süße der Melancholie: „Wer hätte je ahnen mögen, dass die schmucken Uniformen, die glänzenden Paniere, die blitzenden Helme und die polierten Stiefel der kaiserlichen Soldaten ein halbes Menschenalter später schon nichts mehr sein würden als eine ferne, sehr ferne Erinnerung?“ Ihm gelingt es trotz seiner Herkunft, seinen Betrieb durch das Chaos jener Zeit zu lotsen. Dabei entgeht er im November 1918 dank Bielohlawek knapp dem Tod durch eine aufgebrachte Arbeitermeute, die sich die Brauerei unter den Nagel reißen wollte. Und mit diesem Vorhaben sind sie nicht allein.

Denn das Oberhaupt der Strechas, einer kleinbürgerlichen Familie, versucht genau dasselbe. Hermann Strecha, Sozialdemokrat und Prokurist des Barons, findet sich in der neuen Zeit nicht zurecht. Er ist enttäuscht von der Politik, seinem Sohn und seinem eigenen Lebensweg und versinkt in die Deutschtümelei. Er wartet nicht nur auf eine Gelegenheit, den Betrieb vom alten Glickstein zu übernehmen, sondern ganz Österreich verschwinden zu lassen. Die Abwendung der Machtübernahme durch die Nazis durch Schuschnigg 1938 sieht er nur als kurzen Dämpfer und erklärt in einem Lokal seiner rechten Genossen: „Das heißt gar nichts. Das ist der Anfang vom Ende. Der Schuschnigg zappelt halt noch ein bisserl, aber übers Monat ist er weg vom Fenster, und dann sind wir dran. So oder so.“
Die Glicksteins, die Strechas und die Arbeiterfamilie Bielohlawek durchleben im und rund um das Hernalser Bräu die letzten Tage der Monarchie, den Weltkrieg, die Erste Republik und schließlich den Untergang Österreichs1938. Diesen Kreuzweg beschreitet Pittler in Sprüngen. So beginnt sein Buch im Februar 1938, kehrt umgehend ins Jahr 1905 zurück, springt erneut einige Jahre nach vorne und wiederum zurück. Dadurch gelingt es, die Hektik der Geschehnisse auch auf formaler Ebene auszudrücken. Der Historiker und Politikwissenschaftler Pittler schafft es, die gesellschaftlichen Faktoren, die zu den Kriegen und Regierungswechseln führten in Literatur zu kleiden.

Dabei bedient er sich einer höchst präzisen Sprache und schreckt gleichzeitig nicht davor zurück seine Figuren im Wiener Dialekt sprechen zu lassen. So etwa als Wickerl Bielohlawek auf der Suche nach einer eigenen Wohnung fündig wird und ob der Hausregeln ins Gespräch mit dem Hausmeister kommt: „Scheiß di ned an, Bua, i hob di doch nua am Schmäh! Mia is des ollas wuascht, wos do rennt, solaung i mei Ruah hob. Oisdern, do samma.“

„Ruah“ hat man bei der Lektüre dieses Romans keineswegs. Pittler lässt einen kaum verschnaufen und peitscht die spannende Handlung mit jedem Satz nach vorne. Einem kaputten Uhrwerk gleich verhaken sich dabei die Zahnräder der Familien immer wieder in einander – sei es aus Liebe oder Hass. Und am Ende des Romans fragt man sich, ob sie diese Zeit heil überstehen werden.

Andreas Pittler Wiener Kreuzweg
Roman.
Wien: Echomedia Verlag, 2017.
365 S.; geb.
ISBN 978-3-903113-12-1.

Rezension vom 03.05.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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