#Roman

Wiener Fenstersturz

Egyd Gstättner

// Rezension von Alexander Peer

oder: Die Kulturgeschichte der Zukunft.

Zeitreisende soll man nicht aufhalten, Stürzende schon
Die Welt von Gestern scheint für den Kärntner Autor Egyd Gstättner ein unversiegbarer Quell für literarische Herausforderungen zu sein. War im Roman „Das Geisterschiff“ beispielsweise der Secessionist Auchentaller im Zentrum des Erzählens, so ist der Wiener Fenstersturz dem vielseitigen Egon Friedell gewidmet.

Dieser floh am 16. März 1938 durch einen tödlichen Sprung aus seiner Wohnung in der Gentzgasse vor der SA und damit vor einer wohl zu Recht als unerträglich zu bezeichnenden Zukunft. Friedell wusste schon lange um die Gefahr, war aber unentschieden sein Domizil, seine bibliophile Heimat zu verlassen; schließlich hatte er als Privatgelehrter eine Bibliothek mit Tausenden Notizen um sich versammelt. Dieses Zetteluniversum hat ihn bei der Entwicklung seiner umfassenden Reihe kulturgeschichtlicher Analysen – allen voran der „Kulturgeschichte der Neuzeit“ – immer neu stimuliert. Ein Gelehrter und ein Clown wohnten, ach! in seiner Brust. Diese Ambivalenz verstörte mal die einen, mal die anderen. Dabei ist ja ein humorloser Gelehrter meist unangenehm arrogant und ein ungebildeter Komödiant peinlich bis unerträglich. In seinem, ihn ein Leben lang begleitenden Stück „Goethe im Examen“, das 1908 in Wien uraufgeführt wurde, nahm diese Doppelbegabung Friedells erfrischend Gestalt an.

Das große Begehren akribische Forschung immer auch der erhellenden Anekdote wegen zu betreiben, muss Friedell attestiert werden. Gstättners Roman huldigt diesem Begehren in zweierlei Hinsicht:
Erstens in der Konzeption einer wahrhaften Groteske, da der zu Boden stürzende Friedell von H.G. Wells‘ nun endlich erfolgreich gebastelter „Zeitmaschine“ aufgenommen wird. Damit reist Friedell erst in die Zukunft, das heißt in das Wien von heute. Danach legt er den terminalen Retourgang ein und gelangt so in das Wien von Egons Kindheit in der Hochblüte der Gründerzeit. Dabei ereignet sich durch die Wiederholung einer traumatischen Kindheitserfahrung eine therapeutische Intervention. Vielleicht würde Friedell gerade darüber herzhaft lachen, denn er hat ja selten eine Chance verpasst, um die Psychoanalyse ins Lächerliche zu ziehen. Der Roman Gstättners ist in drei Bücher aufgeteilt und insbesondere im dritten Buch, in welchem die dramatische Ehe oder vielmehr Trennung von Egons Eltern erzählt wird, ist der Ton klug gewählt und angemessen ruhig. Wohingegen das zweite Buch eine Betrachtung der Gegenwart durch die Folie des Fremden unternimmt und dabei allerlei Skurrilität in dem vermeintlich Normalen identifiziert, hier dient der beinahe manische Erzählton einer Kulturanalyse. Das erste Buch wiederum porträtiert den engen Kreis um Friedell, der retrospektiv dessen Persönlichkeit und Marotten sowie Vorzüge bekenntnishaft schildert.

Zweitens ist der „Wiener Fenstersturz“ vom Geist Friedells beseelt, weil er Kulturgeschichte als Groteske per se abhandelt und dabei anspielungsreich die verschiedenen Verfehlungen der Menschheit, insbesondere den politischen Irrtum des Nationalsozialismus und seine drohende Dämmerung in Form des wiederkehrenden, national fokussierten Denkens sarkastisch erläutert. Für Kenner der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tut sich ein Panorama Wiens auf, das Friedell, der als geborener Friedmann 1916 vom Judentum zum Protestantismus konvertierte, maßgeblich mit prägte: Wir begegnen seiner Langzeitbegehrten Lina Loos, Peter Altenberg, Alfred Polgar oder auch Karl Kraus und vielen mehr. In Gstättners bizarrer Handlung erweist sich sogar H.G. Wells als eigentlicher Mörder von Karl Kraus … denn der begnadete Wutbürger wurde 1936 nicht von einem Radfahrer niedergestoßen (und verstarb noch im selben Jahr), sondern durch den ungeschickt durch die Zeit manövrierenden Wells.
So grotesk das auch klingt, die Verbindung von Friedell zu Wells ist gegeben, wenn auch nur in der Literatur. Posthum erschien 1946 Friedells „Die Reise mit der Zeitmaschine“ bei Piper. Im Wiener Fenstersturz erreicht die literarische Verbindung eine neue Qualität. Sicherlich taugt Gstättners Buch nicht als Biographie, aber diese hat ja beispielsweise schon 1971 Peter Haage verfasst, und darin auch die Neidung Friedells belegt, das eigene Leben immer wieder mit Legenden zu erhellen oder zu verdüstern – je nach Ambition. Es wäre schließlich kein Buch, das dem Privatgelehrten, Bonvivant und Theatermenschen Friedell gerecht werden kann, wenn es nicht jene schöne Beklommenheit nähren würde, die darin besteht, unabänderlich zu wissen, dass das bessere Leben im Fiktionalen aufgehoben ist und nur so viel Wirklichkeit herein gelassen werden sollte wie eben Not tut. In Friedells Werk findet sich eine Fülle an Passagen, die diese Haltung ausdrückt, etwa in „Der Lausbub“ (1914): „Daß die Philosophen ernste Menschen sind, ist ebenfalls nur eine Legende. Ja, ich möchte sogar behaupten: der Philosoph fängt erst dort an, wo der Mensch damit aufhört, sich und das ganze Leben ernst zu nehmen.“

Egyd Gstättner Wiener Fenstersturz
Roman.
Wien: Picus, 2017.
320 S.; geb.
ISBN 978-3-7117-2055-9.

Rezension vom 21.09.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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