#Sachbuch

Wien 1900

Michael Pollak

// Rezension von Alfred Pfoser

Das wissenschaftliche Interesse hat den Wiener Michael Pollak (1948-1992) nach Paris geführt. Er hat dort bei Pierre Bourdieu dissertiert und ist schließlich, angeregt durch die französische Schule der Kultursoziologie, in den verschiedenen Positionen des Forschungslebens den Themen seines Lebens nachgegangen: der Befindlichkeit der Holocaust-Überlebenden, der homosexuellen Lebenswelt im Zeitalter von AIDS und der spezifischen Kreativität der Wiener Tradition. Drei große Bücher sind daraus entstanden, fünf Jahre nach seinem Tod erscheint nun auch die ursprünglich auf französisch vorgelegte Studie zum Wien um 1900 auf deutsch.

Der Titel Wien 1900, der am großen aktuellen Interesse am österreichischen Fin-de-siècle seit Schorskes Studie anschließt, ist nicht ganz richtig. Pollak geht in großen Zügen der österreichischen Tradition im 19. Jahrhundert nach. Was ihn dabei besonders interessiert: Welches Identitätsgefühl bildet sich in einem Staatsgebilde aus, das mehr als ein Jahrhundert sukzessive Macht einbüßt und mit dem Ersten Weltkrieg implodiert? Das kreative Potential der Wiener Szene um 1900 konstituiert sich unter der Utopie, über Kunst und Kultur so etwas wie österreichischen Patriotismus aufzubauen und die Vielvölkermonarchie unter deutscher Dominanz zu retten. Deshalb auch die besondere und merkwürdige Förderung des Kaisers für die Wiener Secession. Die Erneuerung des österreichischen Mythos geschieht als Gegenzug zu Antisemitismus und Nationalitätenwahn und hat ästhetisierende Züge: „Das Modell hierfür stellte gewissermaßen der Konzertsaal dar, in dem die ästhetisch gebildeten Zuhörer sich der pathologischen Emotionen, welche die Parvenüs auslösen wollten, zu enthalten wissen.“ (S. 151) Als die Kunst wenig Aussicht auf politische Stabilität verhieß, suchten Intellektuelle und Künstler Verbündete; viele setzten schon vor dem Ersten Weltkrieg auf den Katholizismus als stabilisierende Kraft.

Die „verletzte Identität“, die Pollak diagnostiziert, ist in einer Doppelbewegung gefangen. Sie sucht Rettung und Erlösung durch den Krieg oder durch den genannten Katholizismus, später durch den Austrofaschismus, oder sie hält dem irritierenden Chaos der Moderne nicht stand und verschanzt sich in einem antimodernistischen Kulturpessimismus. Alle zusammen, ob Hugo von Hofmannsthal oder Karl Kraus, sind geeint durch eine elitäre, aristokratische Haltung und das „Unvermögen […], im multinationalen österreichischen Universum ihre Zugehörigkeit zur deutschsprachigen Gruppe, ja auch den einfachen Gebrauch des Deutschen als Arbeitswerkzeug anders als in Begriffen kultureller Überlegenheit zu denken“. (S. 279)

Michael Pollak Wien 1900. Eine verletzte Identität.
Aus dem Französischen von Andreas Pfeuffer.
Konstanz: Universitätsverlag, 1997.
286 Seiten, broschiert.
ISBN 3-87940-534-4.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 27.11.1997

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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