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Wie man schlafen soll

Cordula Simon

// Rezension von Daniela Bartens

Dass „die Welt auf kein’ Fall mehr lang“ stehen wird, haben die Texte von Cordula Simon immer schon ahnen lassen und immer wieder hatte auch die (verfehlte) Liebe Anteil daran – sei es, dass in ihrem Erstlingsroman Der potemkinsche Hund (2012) ein durch die Liebe wiedererweckter Untoter, ohne Identitätsausweis bürokratisch ein Nobody und ärmer als jeder arme Hund, durch ein real-surreales Odessa taumelt oder dass in Ostrov Mogila (2013), Simons „Episodenroman über die Apokalypse“, gerade das Liebe-Machen der Zivilisation das Licht ausbläst und „alles in Schutt und Asche“ legt.

Auch in ihrem dritten Roman Wie man schlafen soll (2016) entwirft Cordula Simon ein apokalyptisches Szenario, diesmal jedoch im Gewand einer sich als Utopie verkaufenden Dystopie, wobei das Erzählpersonal wie in einem Kammerspiel streng begrenzt bleibt, während der Plot alle Grenzen sprengt – jene von Außen und Innen, Literatur und Leben, Tag und Nacht, Zeit und Raum. Nimmt doch in der globalisierten Welt auch der Weltuntergang zwangsläufig globale Züge an. Jetztzeit ist eben immer und überall. Und was könnte schlimmer sein als eine Apokalypse als entropischer Dauer(end)zustand?

Längst hat der Siegeszug des Kapitalismus mit seinen Überbietungsstrategien auch noch das Weltende (und sogar die Literatur vom Weltende) erfasst, scheint der Text zu sagen, ein Weltuntergangsspektakel allein kann da nicht mehr ausreichen. Cordula Simon fährt das volle Apokalypse-Programm auf – mit Kraken und Kakerlaken und Kometen, wenn auch in der abgeschwächten Variante des „Meteoroiden“ (mit d am Ende, denn das sei jener, „der nicht auf der Erde einschlägt“, so die Autorin), ein Theaterdonner, wie er im Buche steht. „’Und was machen wir jetzt’, fragte Schreiber. ‚Gar nichts’, antwortete Haye. Es gab kein Entkommen. Über ihnen leuchtete der Meteoroid. Eine Armee an Kakerlaken strömte in die Straßen. Vielleicht kam auch eine Krake und verschlang sie alle.“ (193f.) Das Schlusswort ist da aber noch nicht gesprochen, das überlässt die Autorin einem fiktiven Buch im Buch: „Der Meteoroid verschwand nicht und die Tage flossen in die Bücher, aus denen die Nächte gekommen waren. (Chronik der Verlorenen Momente, 2021)“ (195).

Schrille Töne und grelle Farben, überbordende Einfälle, slapstickhafte Komik und einen abgründig schwarzen Humor hat man der jungen Autorin immer schon nachgesagt. Mit Wie man schlafen soll nützt die Dreißigjährige ihr inszenatorisches Talent für eine ausgeklügelt konstruierte, hochgradig intertextuelle und auch sprachlich genaue Zeitdiagnose. Denn das Science-Fiction-Szenario aus der näheren Zukunft kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dabei – pessimistischer denn je, aber ohne moralisierend erhobenen Zeigefinger – um unsere Gegenwart geht.

Das Setting ist vordergründig höchst einfach und scheint das Trivialschema der literarischen Gattung „Dystopie“ zu erfüllen, bei dem eine dichotome Weltsicht in Hell-Dunkel-Metaphorik inszeniert wird. Wir befinden uns im Jahre 2021 n. Chr. oder kurz davor. Die ganze Welt steuert dem Abgrund entgegen: Dürreperioden und sintflutartige Regenfälle, Ernteausfälle, Rohstoffknappheit, Arbeitslosigkeit, Teuerung und Sozialabbau. Klimawandel allenthalben. Die ganze Welt? Nein. Drinnen in Lightraff, dem Lichtort kapitalistischer Heilsversprechen, einem künstlich errichteten Vollbeschäftigungsutopia mit Schlafplatzgarantie, scheint alles noch beim Alten zu sein.

Während rundum die Systeme bröckeln – schleichend und zunächst nur punktuell wahrnehmbar kündigt sich die Katastrophe an, und wie immer sind die sozial Schwachen, die Minderbemittelten im mehrfachen Wortsinn, die vom Land und jene aus den ärmeren Weltregionen als erste betroffen –, während also rundum alles den Bach runter geht, lockt Lightraff, jener um eine Erdölraffinerie herum auf dem Reißbrett entworfenen Sozialkosmos, mit sicherer Arbeit, satten Gewinnen und einem Bett zum Schlafen. Vom Essen über das Wohnen bis zur Wäsche ist hier alles straff durchorganisiert, Roboter und Kehrmaschinen übernehmen die Putzarbeit, Monitore regeln die Kommunikation. Lightraff ist „eine weitgehend tierlose Stadt“. Es gibt auch „keine Streuner, keine Straßenkünstler, keine Bettler, keine Obdachlosen“ (21) und keine Kinder, hier pflanzt sich nichts fort, wiewohl die Kleinfamilie als Keimzelle der großen „Lightraff-Familie“ vom System propagiert wird, garantiert sie doch Überleben und Stabilität. Clean und wie „alphabetisch geordnet“ (72), nikotinfrei, aber mit Designerdrogen bestückt, wirtschaftliberal und wertkonservativ, ein Hightech-Arbeitslager mit Unterhaltungsmöglichkeiten, so präsentiert sich der Ort mit dem sprechenden Namen.

Kein Wunder also, dass Glücksritter aller Art von Lightraff angezogen werden wie die sprichwörtlichen Motten vom Licht. Verglühen inbegriffen. Denn aus ihrer beschränkten Wahrnehmungsperspektive können sie nicht begreifen, dass es in der globalisierten Welt keine Insel der Seligen mehr geben kann, sondern immer nur werbesprachlich kaschierte Rückzugsgefechte. „Niemals den Traum von der Lightraff-Familie vergessen. Das ist das Glück, das ist die strahlende Zukunft.“ (25) Aber auch die Versuche, mittels weiterer Systemanpassung und Effizienzsteigerung bei gleichzeitiger Überwachung und Bürokratisierung das marode kapitalistische System durch Optimierung am Laufen zu halten, müssen freilich irgendwann an ihr Ende gelangen. An diesem Punkt setzt Cordula Simons Erzählung ein.

Wie einst in Nestroys Der böse Geist Lumpazivagabundus, der „Zauberposse“ über den Zusammenhang von Liebe, Geld und Glück, scheint auch diesmal ein „liederliches Kleeblatt“ das große Los gezogen zu haben, zeitgemäß symbolisiert durch die „Lightraff-Card“, die Zugehörigkeit zu allen sozialen Einrichtungen und ein sicheres Auskommen garantiert. Und wie bei Nestroy handelt es sich um drei ganz unterschiedliche Typen: den Bohemien und genialischen Möchtegern-Künstler Koslov, den einfachen und tüchtigen Mann vom Lande Schreiber und den „gstopften“ zynischen Tunichtgut und Lebemann Haye aus Übersee. Globalisierungsbedingt kommen sie aus unterschiedlichen Milieus und Weltgegenden. Der kulturaffine, solipsistische Einzelgänger und Vielleser Koslov stammt, wie schon sein Name sagt, aus dem slawischen Osten, Francis Haye, der gewissenlose Privilegienritter samt seinen erotischen und gewalttätigen Eskapaden mit der frivol-nuttigen, wiewohl ihm treu ergebenen Valentina, erfüllt die Vorstellung vom „reichen Onkel“ aus der amerikanischen Oberschicht mit seinem Snob-Gehabe, während der einfältig-ordnungsliebende und phantasielos-korrekte Mann der Tat Kurt Schreiber, der ehemalige Landwirt und Ehemann einer kinderlosen hemdsärmeligen deutschen Mutti namens Ilse Kriechling, die er als ewiges Muttersöhnchen wie eine Heilige verehrt, für das Deutsche in all seinen Facetten von „Schlachthaus“ (51f.) über „aschblond“ (68) bis „Duschkammern“ (91) und „Wir schaffen das“ (93) steht. Und auch die Arbeitsplätze, die die drei in Lightraff zugeteilt bekommen, haben etwas mit ihrer Herkunft zu tun. Landet der Künstlertyp Koslov doch als Barkeeper im sog. „Darkraff“, dem eigentlichen Lichtort des Romans, an dem im schmuddeligen Zwielicht der Bar Individualität noch zählt, während Haye in der Stadtverwaltung für die Auswanderungsanträge zuständig – und folglich eine ruhige Kugel schiebend – ein typisches Beamtendasein fristet, und der Landwirt Schreiber, dem Schlachthof zugeteilt und dort in absteigender Größe zunächst für Rinder, dann für Schweine und zuletzt für die Hühner zuständig, sich ohne seine Ehefrau selbst „wie ein halbes Schwein“ (51) fühlt. Das „Tote-Hühner-Zählen“ als neues Zeitmaß, wie überhaupt das (Erbsen-)Zählen und Sparen werden des ewigen Spießers Markenzeichen.

Deutscher Kleingeist und Pragmatismus, US-amerikanischer Imperialismus und russische Seele treffen in diesem Kleeblatt aufeinander oder eigentlich gerade nicht aufeinander, denn die drei Protagonisten teilen sich im Acht-Stunden-Schichtbetrieb Wohnung und Bett, zusammengewürfelt lediglich durch das Zueinanderpassen der Dienstpläne. Das Schlafgängertum mit seiner Isolation wird hier als letzter Schrei perfekter Ökonomisierung verkauft, der soziale Rückschritt in die Gründerzeit Lightraff-gemäß als Fortschritt. Probleme tauchen erst auf, als die Öl- und Geldquellen versiegen und die drei unterschiedlichen Charaktere, nunmehr arbeitslos geworden und in Naturalien abgefunden, doch noch aufeinandertreffen und sich arrangieren müssen. Und während Haye sein Heil in Rauschzuständen aller Art – von kleinen rosa Pillen bis zum erotischen Begehren – sucht, hofft der mit tierischer Gelatine abgespeiste Schreiber mit seiner besseren Hälfte immer noch auf das große Geschäft. Der Leser Koslov hingegen nimmt Zuflucht bei den Büchern, wobei insbesondere zwei Exemplare, ein Rückschau haltendes und ein zukunftsweisendes – der Ratgeber „Wie man schlafen soll“ (2016?) und jene schon erwähnte „Chronik der verlorenen Momente, 2021“ –, für seine unmittelbare Gegenwart bestimmend werden, liest er in ihnen doch, wie ihm nach und nach bewusst wird, seine eigene Geschichte. Und das endet bekanntlich immer letal. „Kein Buch kann dich am Leben lassen, sobald du verstanden hast, von wem es erzählt.“ (179) Die Handlung im Buch und jene im Buch im Buch fallen zusammen und die vor-geschriebene Apokalypse ist nun tatsächlich da.

Am Ende bleibt – wie könnte es anders sein – die (Künstler)Seele auf der Strecke. Und wieder einmal ist der Tod ein bierernster Meister aus Deutschland. Die Seele wird getötet, zur „toten Seele“ gemacht und das Ende des Texts mündet zyklisch in den Buchanfang.

Gleich im ersten Satz sind wir folgerichtig mit einer Leiche konfrontiert, deren Entsorgung den beiden Protagonisten Sorgen bereitet. Endlagerung in der Mülltonne oder im Schlachthaus als menschlicher Schlachtabfall, Müllverbrennung versus maschinelle Gelatineproduktion sind die Optionen, die erwogen werden, während das als Großevent angekündigte Meteoroidenspektakel, der zynisch als Erlöser bezeichnete Meteoroid, die Straßen Lightraffs leerfegt, „fast wie früher, als in Lightraff noch überall rund um die Uhr gearbeitet wurde“ (7).

„Da war keine Zeit, Bedenken zu haben. Und ob es angebracht wäre, sich auf eine Leiche zu setzen. Schließlich ist es nicht einmal angebracht, eine Leiche zu haben. Geschweige denn, eine Leiche zu produzieren. Leichen werden aus Menschen gemacht und Gelatine aus Rindern. Die Menschen waren ja ohnehin furchtbar gereizt in den letzten Tagen. Instinktiv, wie die Tiere. Bevor der Meteoroid kam.“ (57)

Cordula Simon hat durch eine gefinkelte Erzählkonstruktion sichergestellt, dass ihren Lesern – im Gegensatz zu den Protagonisten – die fehlerhafte Entwicklung des Systems „Lightraff“ und deren tödlicher Charakter von vornherein bekannt ist. Das sichert ihnen einen Wissensvorsprung, der sie die Plackereien, die Hoffnungen und Obsessionen der Erzählfiguren als von vornherein obsolet erleben lässt. Fünf, von 00 (wie WC) bis 04 durchnummerierte, dialogisch-theatral strukturierte Kurzszenen, die die Beseitigung der Leiche, besser gesagt die finale „Menschenkörperverwertung“ zum Thema haben und jeweils von abstrus-bürokratischen Zitaten diverser Behördenpapiere zur Definition der Begriffe „Nacht“ bzw. „Tag“ eingeleitet werden, umrahmen vier umfangreiche, mit Ausnahme des letzten jeweils zwölfteilige Erzählkapitel, in denen der Fortgang der Handlung von der anfänglichen Begeisterung für „Lightraff“, den ersten Irritationen über die sukzessiven Kündigungen bis zum bitteren Ende berichtet wird. Wie in einer griechischen Tragödie läuft alles auf die Katastrophe zu, die aber zugleich durch die Erzählkonstruktion von Anfang an präsent ist.

Dass alles lächerlich ist, was einer tut, wenn sein Ende als toter Körper von Beginn weg mitgedacht wird, ist nur eine Lesart dieses komplexen Texts, dass das Verschneiden von tödlichem Ausgang und Entwicklung dorthin auch ein Appell zu einer Umkehr sein könnte, eine andere. Dass es nämlich jetzt, 2016, fünf (Jahre) vor zwölf also, höchste Zeit ist für ein Umdenken, scheint die bitterböse Farce zu sagen. Und dass die Autorin dabei einen hohen intertextuellen Aufwand, von Kafka bis Gogol, aber auch mit zahllosen Filmzitaten aus dem Science Fiction- und Apokalypse-Genre von Tarkowskij bis zu Lars von Triers Melancholia treibt, droht dann und wann den Text zu überfrachten. Unzählige Lesarten, zeitkritisch engagierte, etwa im Kontext der Gastarbeiter- und (Wirtschafts-)Flüchtlingsthematik, kapitalismuskritische, existenzielle oder schlicht handlungsorientiert trivialliterarische, aber auch postmoderne vom Leben der Bücher und der Textwerdung des Lebens bieten sich an, wobei die Schere zwischen sozialem Mitgefühl, Fabulierlust und einer gewissen Freude an der Denunziation offen gelassen wird. Zurück bleibt als nachwirkender Eindruck die clowneske Armseligkeit, ja Käferhaftigkeit fremdbestimmten menschlichen Treibens.

Mit wir schlafen nicht hatte Kathrin Röggla 2004 die Anforderungen des New Economy-Zeitalters charakterisiert. Bei Cordula Simon darf wieder geschlafen werden, der Schlaf selbst jedoch als Hort des Unbewussten – wie lange man schlafen soll und was dabei geträumt werden darf – wird nun paradoxerweise Gegenstand von Reglementierungen. Wie man schlafen soll kann man aber eben nicht lernen, wohl aber erweist sich die Gültigkeit des Sprichworts: Wie man sich bettet, so liegt man.

Wie man schlafen soll.
Roman.
Salzburg, Wien: Residenz Verlag, 2016.
196 Seiten, gebunden.
ISBN 9783701716685.

Homepage der Autorin

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 14.11.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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