#Roman

Wie man leben soll

Thomas Glavinic

// Rezension von Anne M. Zauner

Das Cover von Thomas Glavinics neuem Buch führt den Leser arglistig in die Irre. Da sieht man einen dünnen Striezel vom Hals abwärts, der in den denkbar scheußlichsten Achtziger-Jahre-Anzug gekleidet ist. Der Held von Wie man leben soll ist aber kein dünner Striezel, sondern ein fetter Phlegmatiker, den die Pubertät trotz Trägheitsgesetz aus den Bahnen werfen soll.

Es ist eine Strafe Gottes für einen pickelgesichtigen Jugendlichen dick zu sein, denn die Polster im teigigen Gesicht und die Speckwülste um die Hüften senken die Chancen, mit einem Mädchen zu schlafen, natürlich beträchtlich. Ja nicht mal zwischen die Beine der hässlichen Mädchen darf man fassen.

Also sehnt man sich nach den wilden Hippiezeiten, von denen man gelesen hat, oder sucht in den diversen Psycho-Lebenshilfe-Fragestunde-und-Ratgeber Schmonzetten der achtziger Jahre, in die man unglücklicherweise hineingeboren wurde, nach Antworten auf die ewigen Fragen.

Man ist übrigens Karl „Charlie“ Kolostrum und so heißt man tatsächlich wie die während der Schwangerschaft auftretende eiweißgesättigte gelbliche Vormilch – und das angesichts einer alkohol- und tablettenabhängigen, herrschsüchtigen alleinerziehenden Mutter! Da hat sich Charlies Schöpfer wohl einen bösen Scherz erlaubt. Dem Unglückswurm bleibt nur mehr die Flucht in die unpersönliche, quasi geschlechtslose Man-Erzählform.

In der Folge stolpert man ziemlich blauäugig ins Erwachsenenleben. Flankiert wird man neben der unberechenbaren Mutter von einer bisswütigen, wenn auch phasenweise spendablen Sippschaft. Ihren Spott nimmt Charlie mit eingezogenem Schädel in Kauf. Dafür kann er in einer eigenen Wohnung hausen, darf sich jetzt Kunststudent nennen und gelegentlich mit einer nicht allzu hässlichen Freundin schlafen. Man sollte nicht zuviel vom Leben erwarten, wenn man Kolostrum heißt.

Aus dem träg dahin fließenden Fluß stört ihn sein Schöpfer erst wieder auf, als jener einem Wahlonkel einen tödlichen Elektroschock verpasst. Irrtümlicherweise, versteht sich, Charlie ist beileibe kein Mörder. Es ist nur so, dass ihm andere Dinge im Kopf herumspuken, Melodien hauptsächlich und kitschige Tagträume. Und da wird man anfällig für Unfälle. So passiert es ihm auch wenig später, dass er seine fast hundertjährige Lieblingsurgroßtante Ernestine zu Tode erschreckt, als er mitten in der Nacht fürsorglich nachschauen gehen will, ob sie denn noch lebt. Und den dritten Exitus verpasst er seiner an einer Karpfengräte würgenden Freundin, als er ihr im vergeblichen Versuch, ihr einen Luftröhrenschnitt zu setzen, den Hals zersticht. Pech aber auch.

Inzwischen ist aus dem nebenberuflichen Kunststudenten ein hauptberuflicher Taxifahrer geworden. Das zählt man zu den Unwägbarkeiten des Lebens, die sich nicht aus den klugen Lebenshilfebüchern herauslesen lassen. Genauso schicksalsergeben zufällig wird Charlie zur Talkshowberühmtheit und landet kurz darauf einen heimischen Nummer 1 Singlehit. Mit dieser letzten verblüffenden Wendung lässt der Autor gnädig den Vorhang fallen.

Und die Moral von der Geschicht? Wer sich von Wie man leben soll eine Anleitung erwartet, wie man leben soll, wird vom Titel genauso sträflich in die Irre geführt wie vom dünnen Striezel auf dem Buchcover. Wer sich aber einen vergnüglichen Leseabend bescheren will, sollte den Telefonstecker aus der Dose ziehen, das Handy ausschalten und sich von Charlie Kolostrum und seinem Autor Thomas Glavinic wieder und wieder an die magische Grenze führen lassen, wo sich Humor in Schmerz verwandelt.

Thomas Glavinic Wie man leben soll
Roman.
München: dtv, 2004.
239 S.; brosch.
ISBN 3-423-24392-9.

Rezension vom 02.06.2004

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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